Miss Emergency
fragt, ob ich schon angerufen habe, tue ich es. Dafür wäre es natürlich von Vorteil, wenn sie wüssten, dass ich die Nummer besorgt habe. Ich muss es einfacher machen. Wenn in den nächsten fünf Minuten eine von beiden HEREINKOMMT, ist das ein Zeichen dafür, dass ich Gesellschaft brauche und bedeutet, ich soll anrufen. Also, wenn Isa gleich unerwartet ihr Lehrbuch verlässt und in die Küche kommt, rufe ich an. Obwohl Isa, einmal im Lern-Tunnel, nicht so schnell wieder vom Schreibtisch aufsteht. Wenn Jenny binnen fünf Minuten kommt, rufe ich an. Obwohl das eigentlich nicht gelten sollte, denn für Jenny gehört zu einem Haarpackungsturban ein Glas Sekt, deshalb ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie gleich in die Küche kommt, so ungerecht hoch, dass das Ereignis nicht orakeltauglich ist â¦
Nee, Lena, noch komplizierter kann man es wirklich nicht mehr machen. Es muss doch möglich sein, festzustellen, ob du 1.) anrufen MÃCHTEST, was du 2.) sagen könntest und was 3.) Manuel schlimmstenfalls antworten könnte. Fast habe ich mich von dieser neuen erwachsenen Vorgehensweise überzeugt, da öffnet sich die Küchentür. Jenny, mit einem turmhohen Handtuchturban, will wissen, warum wir noch nichts zu trinken haben. Und Isa bringt ein Lehrbuch voller bunter Klebezettel undfragt, ob sie uns zum ersten der versprochenen 157 Male ihren Patientenfall referieren kann. Beide begreifen fast zeitgleich, was der Zettel vor mir auf dem Tisch bedeutet, und ich sage souverän: »Ich wollte ihn gerade anrufen.« Meine Freundinnen sind überzeugt, dass Manuel auf meinen Anruf wartet. Ich werde trotzdem erst mal nur fragen, wie es ihm geht. Wenn er blöd reagiert, schiebe ich einen medizinischen Grund vor und beende das Gespräch.
Manuel ist weder herablassend noch erfreut, er ist beleidigt. »Sag bloÃ, du erinnerst dich an mich!«, sagt er wie die um hundert Jahre vertröstete Elfenbeinturm-Prinzessin.
Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass Manuel sich zu Hause schrecklich langweilt und der Meinung ist, ich hätte mich schon vorgestern melden können. Ich berichte nur knapp vom Klinikstress; es scheint ihn aber auch nicht so sehr zu interessieren wie die Frage, wann wir uns denn sehen. Dass wir uns treffen, scheint also ausgemacht. Und das schmeichelt mir dann doch wieder. Ich frage mich jetzt einfach mal nicht, ob es wirklich daran liegt, dass er mich so gerne mag â oder ob der zur Untätigkeit verdonnerte Manuel sich schlicht nach Ablenkung sehnt.
»Ich schlage vor, du kommst morgen her«, sagt er. Ganz schöne Macho-Allüren. Schon aus Prinzip muss ich sagen, dass ich morgen nicht kann. (Komm schon, Lena, du WILLST ihn doch treffen! Aber so viel Erziehung muss sein.) Wir einigen uns auf Sonntag.
»Meine Ãrztin hat mir das Aufstehen verboten«, sagt Manuel und ich kann sein Grinsen förmlich hören. »Ich werde aber das Bett frisch beziehen lassen, eh du kommst.«
Immer die gleichen Frechheiten. Inzwischen bin ich dran gewöhnt, Herzchen.
»Ist gut«, antworte ich. »Aber zieh den Spiderman-Schlafanzug aus.«
Er lacht. Und plötzlich freue ich mich richtig drauf, ihn zu sehen. Wenigstens Mission 1 ist bestanden.
I ch habe Jenny wirklich gern. Aber ich muss zugeben, dass ich sie doch noch nicht richtig einschätzen kann. Sie überrascht mich immer wieder. Im Umgang mit Paula Schwab, der Krebspatientin, ist sie plötzlich ganz anders, sehr erwachsen, distanziert. Bei der Visite berichtet sie von der Endosonografie, mit der sie die Ausbreitung des Tumors festgestellt hat. Heute wird sie eine Ultraschalluntersuchung der Bauchorgane und danach ein CT durchführen, um die Metastasenbildung zu überprüfen. Jenny klingt sicher und routiniert. Plötzlich kann ich mir vorstellen, was aus ihr werden kann. Eine kluge, erfahrene Ãrztin, eine, die nicht zu viele Worte macht und nicht nach deinem Privatleben fragt â aber eine, bei der man sich sicher fühlt. Ich bin irgendwie stolz auf sie. Umso mehr ärgert es mich, als ich Marie-Luises gehässige Bemerkung aufschnappe. Wir verlassen die 17 und die Gruppe zerstreut sich gerade, da sagt Marie-Luise gut hörbar in die Luft: »Die hat sie sich doch nur gekrallt, um sich zu profilieren.«
Was für eine Gemeinheit! Ich will ihr eine gepfefferte Antwort geben, doch auch Jenny hat die Bemerkung gehört.
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