Miss Emergency
Schreibtisch-Doppelbett-Kleiderschrank-Möblierung und die verstreuten Bücher und Klamotten schweifen und sagt: »Aha. Jenny.« Dann tritt sie zum Bett, stellt die riesige Tasche ab und beginnt auszupacken. In akkuraten Stapeln nimmt sie Kleider aus der Tasche und schichtet sie auf dem Bett auf. Ein StapelShirts, ein Stapel Pullover, ein Stapel Jeans ⦠Ich stehe in der Tür und bin sprachlos. Offenbar zieht diese Frau gerade hier ein. Steht es so schlecht um die Ehe von Jennys Eltern? Weià Jenny davon? Hat sie ihre Mutter eingeladen? Ich bin ratlos. Bei so was kann man ja schlecht nachfragen ⦠Jenny sollte heimkommen. Sofort. Ich gehe in den Flur, um sie per SMS nach Hause zu beordern. Doch der Text ist noch nicht fertig, als Jennys Mutter mich ruft. Auf Jennys Bett sind die Klamottenstapel gewachsen, die Tasche liegt gefaltet daneben.
»Ich muss los, Schätzchen!«, sagt Jennys Mutter und pufft den Jeansstapel zurecht. »Sag Jenny, wir sind stolz auf sie, ja?«
Bevor ich herausbringe, dass ich mit der Situation überfordert bin, ist sie aus der Wohnung gerauscht. Im Flur bleibt eine fast sichtbare Wolke ihres schweren Parfüms hängen.
»Meine Mutter war da«, sagt Jenny naserümpfend, als sie die Wohnung betritt. Aha, dass ich das Parfüm nicht mehr rieche, heiÃt nicht, dass es nicht mehr da ist. Ich beschreibe, so gut ich kann, den seltsamen Auftritt. Doch Jenny wirkt nicht verwundert. »Ich hab doch gesagt, dass die Krebspatientin sich auszahlt.«
Isa und ich sind kein bisschen schlauer. Jenny sieht routiniert die Klamottenstapel durch und nickt zufrieden. »Alles feine Ware, Mädels. Bedient euch!«
Die Erklärung ist einfach. Jennys Vater hat erfahren, dass Jenny sich in der Klinik recht gut macht. Jennys Eltern haben entschieden, dass das ein Grund ist, stolz auf Jenny zu sein. Und immer wenn sie ihrer Tochter ein Lob zukommen lassen wollen, gibt es Geschenke. Deswegen kauft Jennys Mutter Belohnungs-Klamotten und liefert sie hier ab. Es heiÃt quasi: Sieh, wie viele Sachen â und wie teure â ich gekauft habe, dann weiÃt du, wie stolz wir auf dich sind.
Isa sieht mich nachdenklich an, offenbar ist ihr der bemitleidenswerte Aspekt ebenso klar. Jenny aber lacht und wirkt, als sei ihr die kühle Oberflächlichkeit des Belohnungssystems zwar bewusst aber schnurzegal. »Los! Sucht euch was aus!«, fordert sie uns auf.
Wir sind zögerlich. Obwohl es aussieht, als seien echt begehrenswerte Teile dabei â ich habe Skrupel.
»Nehmt! Das sind doch viel zu viele Sachen für einen.« Jenny beginnt uns Klamotten auszusuchen; sie hängt Isa ein Jäckchen um, dessen Label mir Schnappatmung verursachen würde, und legt mir einen Pullover in den Arm, dessen Wolle sich so weich anfühlt wie ein Babyhäschen. »Keine Hemmungen, Mädels«, sagt Jenny. »Wenn ich mein Probeexamen bestehe, kriege ich neue Sachen.«
Fünf Minuten später sind wir im absoluten Rausch. Wir probieren und kombinieren und sind nicht mehr zu bremsen. Die Klamotten sind in Qualität und Preisklasse jenseits meiner Möglichkeiten, im Stil aber genau, was ich mag. Bunte Shirts aus hauchdünnem Stoff, Jeans, die mal wirklich sitzen, kurze Kleider, die exakt die Mitte zwischen sexy und elegant treffen. Und der kuschelweiche schwarze Pullover schreit förmlich danach, alle Festtage meines verbleibenden Lebens mit mir zu feiern. Jenny probiert an Isa immer neue Kombinationen aus, Businesslook, Countrystyle, Hippieschick. Isa lässt sich zurechtmachen und prüft jedes Outfit gründlich im Spiegel. Als sie bei einem Kleid mit Rückenausschnitt fragt, ob wir so auch in ein Restaurant gehen würden, höre ich die Nachtigall trapsen. Jenny natürlich auch. »Kommt drauf an, wohin er dich ausführt«, grinst sie.
Isa wird rot. Tja â dann sollte sie nicht SO durchschaubar fragen! Doch WER sie ausführt, will sie immer noch nicht verraten und langsam finde ich es wirklich etwas kindisch. Jenny scheint der Geheimniskrämerei auch überdrüssig.
»Ist schon okay, Isa«, lächelt sie. »Ich weià doch, was los ist.« Isa starrt sie an. Jenny grinst. »Lena will es nicht wahrhaben. Aber ich bin ja nicht blind!«
Isas Schultern werden schmal und plötzlich wird mir klar, was passiert: Sie fängt gleich an zu weinen! Verdammt! Warum hab ich es nicht kapiert? Sie hat
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