Miss Emergency
Sabrina zu einer Kollegin »Das erklärt ja die guten Bewertungen« und ich muss die Station verlassen, wenn ich nicht direkt vor allen losheulen will.
Im Treppenhaus riecht es verraucht. Am unteren Fenster lehntFelix. Ich bleibe einen Moment bei ihm stehen. »Du auch?«, fragt er und pustet den Rauch seiner Zigarette über das graue Berlin. »So endet es dann. Man will nirgendwo mehr hingehen und drückt sich in den Pausen in dem bescheuerten Treppenhaus rum.«
Ich weiß, wo ich hingehen will. Ich muss nur kurz Kraft sammeln, um die letzten 80 Schritte zu schaffen.
»Wie geht es ihr?«, fragt Felix.
Ich schüttle den Kopf. »Ich habe sie noch nie so erlebt.« Das ist alles, was mir einfällt. Er antwortet nicht, sieht hinaus in den Regenmatsch. Ich gehe. Noch 79 Schritte.
Auf dem unteren Flur ist schon Unruhe. Auch hier neugierige Blicke, Getuschel. Wann werde ich mich je wieder in die Cafeteria wagen? Ich klopfe an Tobias’ Büro, ist mir doch egal, wer es sieht. Wenigstens das sollte jetzt ja keine Rolle mehr spielen.
Er öffnet, sieht müde aus. »Wie geht es dir?«, fragt er.
Ich will nichts von den eisigen Blicken sagen, den abfälligen Bemerkungen. Es nicht noch schwerer machen. Ich schüttle nur den Kopf.
»Sie werden sich dran gewöhnen«, flüstert er. »Wenn ich weg bin, wird es leichter.«
Seine Umarmung ist fest. Sie scheint der einzig sichere Ort.
Ich will nicht zurück nach oben gehen. Niemals. Aber ich muss.
Ich führe die Abschlussuntersuchung bei Frau Jahn durch und halte mich damit auf, solange es geht. Als ich sie entlasse, bin ich so traurig, als würde ich meinen letzten Freund verlieren. Vielleicht ist sie tatsächlich die Einzige, die noch nichts von der Geschichte gehört hat, denn die anderen Patienten sehen mich seltsam an. Oder ist das schon Paranoia?
»Dann gehe ich mal die Scherben auflesen«, sagt Frau Jahn, als sie sich verabschiedet. Ich erinnere mich, wie entschlossen sie an ihren Krücken davongehumpelt ist, als ich sie zum ersten Mal entlassen habe. Eine ganze andere Frau. Wann werde ich damit zurechtkommen, dass man manchmal einfach nichts mehr tunkann? Obwohl man Ärztin ist? Dass es manchmal einfach zu spät ist? Ich bringe Frau Jahns Akte zurück ins Schwesternzimmer. Jana ist da, sagt aber nichts, sieht mich nicht mal an. Erst als ich rausgehe, spricht sie.
»Na, ich hoffe, das ist es wert«, sagt sie zur Wand.
Ich gehe einfach raus.
Keine Stunde später winkt mich Dr. Thiersch in ihr Büro. Ich weiß nicht, was kommt. Aber ich bin zu abgespannt, um mir Sorgen zu machen.
Sie knallt einen Bericht auf den Tisch. Wortlos. Ich werfe einen Blick drauf. Erst begreife ich gar nichts, dann plötzlich wird es mir klar. Hier ist alles durcheinander. Es sind zwei Berichte, die mir irgendwie durcheinandergekommen sind. Nur eine Hälfte gehört zu Frau Jahn, die Vermischung bewirkt völligen Nonsens. Das ist kein Anfängerfehler. Das ist Versagen.
Ich entschuldige mich und nehme den Bericht wieder mit.
Ich sitze im Arztraum und bringe das Chaos in Ordnung. Unfassbar, wenn dieser Bericht so rausgegangen wäre.
Ich bin überhaupt keine gute Ärztin. Ich bin nichts.
Als ich fast fertig bin, greift jemand um die Tür des Arztraumes und schaltet das Licht aus. Ich sitze im Dunkeln und knülle ohnmächtig das Papier in meiner Hand.
Am Abend kehre ich in Tobias’ Büro zurück. Jemand sitzt bei ihm. Dr. Al-Sayed, die geheimnisvolle Ärztin. Ich wusste gar nicht, dass die beiden befreundet sind.
Sie steht auf, als ich hereinkomme, sieht mich ruhig an.
»Ich wünsche euch, dass es das wert ist«, sagt sie, als sie geht. Es klingt ganz ehrlich. Und schrecklich.
Ich schließe die Tür hinter ihr und fange an zu heulen. Weil ich so große Hoffnungen hatte. Hier. Weil der Tag entsetzlich war – aber nichts gegen das Gefühl, hier zu stehen und zu spüren, was es kosten wird, mit ihm zusammen zu sein. Dass er es nicht ertragen wird.
Wir können zwei Ärzte sein, gute Ärzte, vielleicht auch ich. Aber nicht zusammen.
Er nimmt mich in den Arm. Ich lasse es geschehen, ein letztes Mal. Einmal noch fühlen, wie es gewesen wäre. In einem anderen Universum.
»Ich habe mit Friedrich gesprochen«, sagt er. »Ich werde mich versetzen lassen …«
Ich weiß, worauf sein Blick fällt. Der kleine Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch, sein Spruch. Und hier ist der Mittelpunkt der Welt . Sein Schreibtisch. Sein Krankenhaus. Unmöglich kann er hier weggehen. Die Tränen sind alle, ich
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