Miss Emergency
leider nicht ganz so gut. Aber ich hoffe, ich habe wenigstens die zweitbeste Möglichkeit gefunden, deine Laune wieder anzuheben.«
Wir passieren das Ortsteilschild »Schöneberg«. Wo will erdenn hin? Thalheim bremst an einem recht trostlosen Platz kurz vor einem U-Bahn-Eingang. Wortlos steigt er aus, nimmt eine Tasche vom Rücksitz und öffnet meine Tür. Neben der Straße liegt ein Park, etwas tiefer. Er schließt den Wagen ab, lächelt, sagt immer noch nichts. Ich folge ihm verwirrt. Fahren wir mit der Bahn?
Wir gehen auf den U-Bahnhof zu, kurz davor bleibt er jedoch stehen und sieht sich um. Und dann steigt er neben der Straße die Böschung hinunter zum Park. Ich bleibe irritiert stehen. Ein Parkspaziergang? Und gibt es keinen normalen Eingang? Er kommt zwei Schritte zurück. »Aber lila Haare traust du dich, ja?« Er nimmt meine Hand und führt mich nach unten. Seine Hand ist warm und fest. Und eine piepsige Mädchenstimme in meinem Bauch sagt: »Mit dem gehst du überallhin.«
Erst einmal gehen wir steil nach unten. Dort liegt der U-Bahnhof hinter einer Fassade, die in Lübeck zu einem Palais gehören würde. Riesige Fenster, zurückgesetzt in großen Nischen, Säulen. Direkt vor uns ein kleiner dunkler See. »Komm«, sagt er und führt mich auf dem schmalen Streifen zwischen Wasser und Mauer bis zur Mitte des Gebäudes. Dort stellt er seine Tasche in eine der tiefen Fensternischen, breitet eine Decke auf dem Sims aus und lacht. »So, Fräulein Weissenbach, mehr Einsamkeit kann man in Berlin kaum finden.«
Wir sitzen eng nebeneinander und sehen auf das dunkle Wasser. Hier draußen ist es fast still, die U-Bahn, die ab und an hinter den Fenstern in unserem Rücken vorbeifährt, ist nur leise zu hören, taucht uns aber regelmäßig in ein warmes Licht. Der Inhalt der Doktortasche ist überraschend klinikuntauglich: Käse, Wein und Brot, auf dem Taschenboden erkenne ich die alte Thermoskanne. Thalheim schenkt Kaffee ein und drückt mir seine zerbeulte Thermotasse in die Hand, die – auch wenn ich das niemals zugeben würde – eigentlich der Grund dafür war, dass ich mich in ihn verliebt habe. Nach dem Regen gestern ist der heutige Abend milder, spätsommerlich. Oder liegt es an Thalheim, dass ich mich so wohlig warm und nach Sommer fühle? Mir ist jedenfallskein bisschen kalt … trotzdem lasse ich es mir natürlich gern gefallen, dass er die Decke ein wenig an mich und mich ein bisschen mehr an sich heranzieht. Das ist das erste Mal, dass wir wie ein Paar zusammen sind. Nicht nur hastige heimliche Küsse, kein besorgtes Horchen nach Schritten auf dem Flur, nur wir.
»Erzähl!«, sagt er. Ich zögere zwei Sekunden pro forma und mache mir dann nur zu gern Luft über die gemeine Eisprinzessin. Thalheim hört widerspruchslos zu, wie ich seine Kollegin der Niedertracht, Unversöhnlichkeit und Häme beschuldige. »Du bist jung und ehrgeizig«, sagt er schließlich langsam. »Es wird immer Menschen geben, die sich von dir bedroht fühlen oder dir den Erfolg schlicht nicht gönnen. Das Geheimnis ist, selbst absolut korrekt zu sein – und auf sie zu pfeifen.« Er drückt mich an sich und lacht leise.
Jetzt fühle ich mich ob meiner impulsiven Kritik ein wenig beschämt. Und überhaupt: sind wir nicht hier, um die Klinik zu vergessen? Das scheint er auch zu denken. Wir küssen uns. Wer braucht lila Haare und Nirvana, wenn es auch SOLCHE Seelenaufbau-Unternehmungen gibt?!
»Das ist ja alles ganz prima, Lena«, sagt die Stimme in meinem Kopf. »Aber ein anständiges Mädchen muss wissen, was es zu erwarten hat! Du hörst jetzt sofort auf zu knutschen und fragst, was das hier werden soll! Mit euch. Und überhaupt.« Oh Mann, könnte meine innere Gouvernante bitte die Klappe halten? Es ist doch eigentlich gerade alles perfekt – der Mond geht auf, der See schimmert, die Stadt ist ganz nah und geht trotzdem niemandem auf die Nerven … und ICH KÜSSE DR. THALHEIM, der warm und weich schmeckt und meinen Kopf hält, dass man am liebsten in Ohnmacht fallen würde! Wen interessiert morgen?
Die Gouvernante stützt empört die Hände in die Hüften. Okay, okay, genau genommen hat sie schon ein bisschen recht. Als Thalheim sich zurücklehnt, um mich mit in seine Jacke zu hüllen – habe ich schon gesagt, dass es gar nicht kalt ist, nur schön? – nehme ich meinen Mut zusammen, um ihn auf das zukünftige angemessene Verhalten bei den unvermeidlichen Klinikbegegnungenanzusprechen. (Du musst verrückt sein, Lena,
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