Miss Emergency
mich jetzt nicht trösten. Aber einen winzigen, aufmunternden Blick hätte ich doch wohl verdient?! Nichts. Er sieht nicht her. Gleich zerlaufe ich auf dem Fußboden, enttäuscht und verlassen.
Der Einzige, der demonstrativ zu mir hält, ist Ruben. Er kassiert Dr. Thierschs Apfel ab und sagt dabei so laut wie möglich: »Einmal Mittagessen Diät, einen Euro.« Und an Dr. Thierschs hochgezogenen Augenbrauen ist ganz deutlich zu erkennen, dass die Unterstellung, sie müsse Diät halten, sie ärgert. Wenigstens. Als sie schnaubend davongeht, lächle ich Ruben dankbar an. Auch Thalheim steht auf und geht. Ich lehne mich erschöpft an den Tresen. »Ruben«, frage ich, »willst du mein geheimer Freund sein?« Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, Schätzchen, so was kann ich nicht.« Eben.
Zur Visite ist Frau Jahn noch nicht aus dem Aufwachraum zurück und ich – nach meinem Cafeteriaerlebnis in Anti-Chirurgen-Laune – beschließe, meine seltsamen Funde in ihrem Nachtschränkchen nicht an die Ärzte zu verpetzen, sondern erst mal selbst mit ihr zu reden.
Bei meinen Schützlingen läuft alles vorbildlich, als wolle mich der Klinikgott ein wenig entschädigen. Herr Kohler ist nach unserer klärenden Morgenbegegnung offen und herzlich und lobt mich vor allen für mein endlich erwachtes Patientenumgangs-Talent. Ein Pluspunkt bei Dr. Gode. Frau Schneider erholtsich gut und ich liege sowohl mit meiner Medikamentierung als auch mit meiner Entlassungsprognose richtig – das gibt ein zweites Bienchen beim feschen Stationsarzt. Er zwinkert mir zu. »Wenn Sie beim Operieren ein ebenso gutes Händchen haben, kann ich nur hoffen, dass Sie bei uns bleiben.« Tja, wenn ich doch endlich mal operieren DÜRFTE!
Vielleicht habe ich heute wirklich einen guten Draht zum Klinikgott, denn in dieser Sekunde brüllt es über den Flur: »PJler zum OP!« Meine Hand zuckt. Jetzt bin ich aber wirklich dran!
»Neuer PJler in den OP!«, wiederholt die Stimme. Wie – »neu«?! Das kann doch nicht wahr sein, die arme Isa! Was ist denn jetzt schon wieder falsch gelaufen? Wenn sie zum zweiten Mal umgekippt ist, wird sie so schnell wohl keine OP mehr bekommen. Halt, Lena! Mitleid verschieben, melden! Bevor mein Verstand nach Luft geschnappt hat, um mir Selbstüberschätzung vorzuwerfen, hat sich meine Hand schon ganz selbstständig in die Luft gereckt. Sie hat keine Zweifel daran, dass sie sehr wohl die erneut ausgefallenen Isa-Hände ersetzen kann. »Zunähen, sehr viel mehr wird doch nicht mehr zu tun sein?«, zuckt meine übereifrige rechte Hand. »Das schaff ich auch ohne das treulose Hirn, das sich feige in Bedenken zurückzieht.«
»Moment«, schaltet sich das Gehirn wieder dazu, »Isas OP ist vorbei!« Stimmt. Für die Patientin im Aufwachraum wird garantiert kein Ersatz-PJler gebraucht! Es muss um Herrn Reichelt gehen, die Lendenwirbelsäule. Die Monster-OP. Jenny.
Mein Hirn ist so damit beschäftigt, diese verwirrende Information zu verarbeiten und Gründe für einen Ausfall der furchtlosesten PJlerin unserer Station zu ergrübeln … dass ich vergesse, meinem rechten Arm das Signal zu senden, dass er dringend die Hand wieder herunternehmen sollte. Und so nickt Dr. Gode mir zu und sagt: »Dann versuchen Sie Ihr Glück!«
Wie benommen laufe ich zum OP-Bereich. Jetzt. Jetzt! Umziehen. OP-Kleidung. Haube. Mundschutz. Der lange Gang zum OP-Saal, der Waschraum. Ich reinige meine Hände in Windeseile, aber so heftig, als müsse ich auf die Schnelle eine derHautschichten loswerden. Durch ein Fenster kann man in den OP-Raum sehen, zwei Chirurgen arbeiten konzentriert. Wo ist Jenny? Ich trete näher an die Scheibe. Jenny sitzt am Boden und hat eine Gesichtsfarbe, die ich noch nie im Leben gesehen habe. Buchstäblich grün. Ganz langsam steht sie auf. Komm her, Jenny! Ich bin hier – und gewillt, mein Bestes zu geben.
Sie entdeckt mich. Endlich schafft sie es, aufzustehen. Die Chirurgen sehen sie nicht mal an, als Jenny zur Tür wankt. Endlich steht sie mir gegenüber, sie schiebt den Mundschutz herunter und ein schwaches Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Schlappgemacht …« Ich sehe ihr nur zu deutlich an, wie es sie kränkt, nicht durchgehalten zu haben. »Ich dachte echt, ich schaffe es«, murmelt sie missmutig. »Aber vier Stunden Haken halten … Darauf hat mich kein Mensch vorbereitet!«
Sie tritt ans Waschbecken und schaufelt sich kaltes Wasser ins Gesicht, endlich bekommt sie wieder Farbe.
Durch das Fenster sehe ich die
Weitere Kostenlose Bücher