Miss Emergency
Stelle angeboten wurde. Eine Institution, die freiwillige Dienste in der Dritten Welt vermittelt, möchte ihn als Koordinator anstellen. Verantwortung, Reisen, Kontakte – alles für einen guten Zweck und trotzdem anständig bezahlt. »Es wäre idiotisch, so ein Angebot abzulehnen«, sagt Jenny entschieden. »Andere Geisteswissenschaftler fahren Taxi.«
»Ich weiß!« Isa wirkt schrecklich niedergeschlagen. »Aber nach München sind es sechs Stunden Fahrt!«
»Und was sagt er dazu?«, frage ich vorsichtig.
Isa schnieft. »Er freut sich. Das ist es ja!«
Es stellt sich heraus, dass Tom ihr zwar überglücklich von seiner herrlichen Berufsaussicht erzählt, aber kein Wort darüber verloren hat, was aus ihnen werden soll. Und Isa, zu nett und immer vorsichtig, hat nicht danach gefragt. »Ich kann ihm die Freude doch nicht gleich wieder verderben …« Sie tut mir leid. Seit Neustem kann ich nachvollziehen, wie schrecklich man jemanden schon binnen weniger Stunden vermissen kann.
»Da hilft nur Likör«, findet Jenny, der wiederholtes Drüberreden – Isas bester Weg zur Verarbeitung von Widrigkeiten – immer nicht so liegt. Sie stellt einen fiesen Pflaumenlikör auf den Tisch. »Seht ihr, den hat mir MEIN Verehrer geschenkt«, grinst sie. »Mit dem ich im Übrigen auch nicht zusammen sein darf, weil seine Familie dagegen ist.« Nein, der klebrig süße Likör stammt weder von Felix noch von Björn, sondern von dem kleinen Verkäufer unseres Lieblings-Asia-Imbisses, der bis über beide Ohren in Jenny verknallt ist, von seiner Mutter allerdings mit der Kelle gedroht kriegt, wenn er ihr Komplimente macht – denn für ihren Geschmack trägt Jenny zu kurze Röcke. Die Liebesgabe des schüchternen Vietnamesen opfert Jenny jedenfalls gern, um unsere Stimmung zu heben. Sie schenkt großzügig ein.
»Aber es ist fast Mitternacht!«, sagt Isa besorgt. »Wir müssen ins Bett!« Jenny schnaubt und gießt die Gläser extra bis zum Rand voll. »Wer hat denn hier Liebeskummer?!«
Pflaumenlikör ist eine hundsgemeine Sache. Schon beim Trinken könnte einer vernünftigen Seele klar sein, dass nichts, was so süß schmeckt, ungestraft bleibt.
Am Morgen habe ich entsetzliches Kopfweh. Jenny geht es nicht besser; sie sieht mindestens so zerknautscht aus wie ich mich fühle und schwört mit schwacher Stimme, dass sie definitiv von der Liebes-Flucht-Heirat mit dem kleinen Vietnamesen zurücktritt. Nur Isa, die so klug war, um Mitternacht ins Bett zu gehen, ist wohlauf – und so lieb, uns wenigstens ein elektrolythaltiges Frühstück zu bereiten. Ich wollte ja auch ins Bett … Um eins, spätestens um zwei. Aber Jenny und mich haben die ausführliche Schilderung meines Thalheim-Ausflugs und ihre etwas gewöhnungsbedürftigen Vergleiche der Vorteile ihrer Parallel-Freunde die halbe Nacht gekostet. Gestern haben nämlich beide angerufen – und beide wollen heute mit ihr ausgehen. Björn muss zu einem Firmenempfang und wünscht sich eine hübsche Frau an seiner Seite, die ihn von der Langeweile des Abends und potenzielle Geschäftspartner von seinen hohen Preisen ablenkt. Jenny hat ein neues nobles Kleid, für das sich bisher noch kein Anlass fand und das sie dorthin prima ausführen könnte. Felix’ Datepläne sind weniger exklusiv; er will nur die letzten schönen Tage ausnutzen, bevor er seine Maschine über den Winter einmotten muss. Aber Jenny LIEBT Motorradfahren. Am Ende konnte ich sie gerade noch davon abhalten, sich jetzt doch die Haare lila zu färben und abzuwarten, welcher der Traummänner dann noch zu ihr steht. Okay, der Vorschlag rührte sicher daher, dass ich so streng gemahnt habe, sie müsse sich entscheiden. Nicht nur aus Fairness-, sondern auch aus Stressvermeidungs-Gründen. Was will sie denn tun, wenn die beiden mal nicht mehr nur anrufen, sondern gleichzeitig vor der Tür stehen? Jenny zuckt die Schultern. »Dann mache ich einfach nicht auf?« Und schenkt – auf diese schwierige Entscheidung – noch einmal Pflaumenlikör nach.
Zu meiner romantischen Thalheim-Episode hat sie nur eins zu sagen: Nachdem ich etwa hundertmal seinen Namen gesagthabe, grinst sie mich an. »Wenn du ihn wirklich liebst, solltest du langsam mal fragen, ob ihr euch duzen könnt. Wenn du ›Thalheim‹ sagst, muss ich immer nur daran denken, wie er uns auf dem Flur zusammengestaucht hat, weil wir seine Stationsärztin belauscht haben. Tut mir leid, dabei kann ich einfach keine Empathie für deine Liebesgefühle
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