Miss Emergency
Schwester energisch winken. Ich muss in den OP-Saal, die warten auf mich. Und ich muss gehen, bevor mich der Mut verlässt. Es fällt mir für den Bruchteil einer Sekunde schwer, meine desillusionierte Freundin hier zurückzulassen. Hör auf, Lena, du kannst jetzt nichts für sie tun, darfst sie nicht mal tröstend umarmen, sonst musst Du dich noch einmal waschen. »Geh schon«, sagt Jenny.
Ich halte die sauberen Hände vor dem Körper, als würde ich ein Tablett tragen und betätige den Türtritt zum OP-Saal. Jenny schiebt sich hinter mir in den OP, bleibt erschöpft an der Tür stehen. Näher darf sie dem OP-Tisch ohne Kittel und Handschuhe nicht kommen, aber vielleicht will sie mir beistehen. Vielleicht will sie jetzt auch einfach nicht allein sein.
Ein letzter Blick zu ihr, sie nickt mir zu. Dann trete ich zur OP-Schwester, die mir bereits den Kittel aufhält. Ich schlüpfe mit den Armen hinein, gerade nach vorn, nicht die Hände hochhalten, oben ist unsteril. Schon reicht mir die Schwester einen Handschuh.
Die Tür geht noch einmal auf und herein kommt Dr. Thiersch.Ich kann nur hoffen, dass die Oberärztin für heute genug Menschen gedemütigt hat und jetzt nicht über die arme Jenny herfällt. Aber siehe da – ihr steht der Sinn offenbar nicht mehr nach Beleidigungen. »Kommt vor«, sagt sie leise zu Jenny. »Sie haben sich ja auch gleich mal das schwerste Programm rausgesucht.«
Hört, hört! Haben wir der Schneekönigin Unrecht getan? Schlägt tief im vereisten Vorzeigekörper ein menschliches Herz? Jenny lächelt die Oberärztin dankbar an, sie hat wohl auch eher mit einer Standpauke als mit verständnisvollem Zuspruch gerechnet. Dr. Thiersch zeigt jedoch gleich, dass freundliche Worte sie Überwindung kosten, sie fügt etwas abfällig hinzu: »Andere kippen ja schon bei einer simplen Gallen-OP um.«
Ich ärgere mich nur insgeheim – erstens, weil ich momentan durchaus bereit bin, die Schmähung einer abwesenden Freundin in Kauf zu nehmen, wenn das der Preis dafür ist, dass die Eisprinzessin jetzt nicht über meine anwesende und schwer angeschlagene andere Freundin herfällt … und zweitens, weil die Springer-Schwester gerade meinen Kittel schließt, während ich in den zweiten Handschuh fahre. Nur noch drei Sekunden bis zu meiner ersten OP!
»Wer ist der Ersatz?«, fragt Dr. Thiersch. Ich drehe mich um, grün verpackt und zu fast allem bereit. Die Oberärztin mustert mich, ihre Augen rutschen eng zusammen. Ach nein, sie hat mich nicht erkannt? Und ich dachte schon, ich bin für heute davongekommen!
»Sie ist gleich fertig«, sagt die Schwester eilig.
Dr. Thiersch schüttelt den Kopf. »Sie nicht.« Mehr sagt sie nicht, mehr ist auch nicht nötig. Sie macht auf dem Absatz kehrt und verlässt den OP.
Ich stehe da wie vom Donner gerührt. Kann man so nachtragend sein? DARF man so sein?! Hier bin ich, fertig eingekleidet und allen Mut zur Faust geballt … und darf nicht. Auch die OP-Schwester ist perplex, starrt mich an. Jemand winkt mich weg, eine eilige, herrische Handbewegung. Benommen verlasse ich den OP.
Dr. Thiersch ist noch im Waschraum, doch sie erklärt nichts. »Neuer PJler!«, ruft sie in den Flur. »Wird’s bald?!« Was mache ich denn jetzt?!
Ich muss mich wieder aus der grünen Hülle pellen. Vielleicht könnte Dr. Thiersch die Bänder des Mundschutzes nehmen und mich damit an einen der Haken hängen – zur Abschreckung aller anderen PJler? Ich begegne Jennys Blick, auch sie wirkt völlig verdattert. Und bringt sogar schon wieder den Mut und die Kraft auf, zu fragen, warum ich nicht assistieren darf. Dr. Thiersch sieht mich nicht an, spricht nur zu Jenny. »Prinzipien. Schon mal davon gehört? Sie kann es morgen noch mal versuchen.« Damit geht sie.
Ich kann mich immer noch nicht rühren. Dann geht alles ganz schnell, Sabrina kommt hereingehetzt, nickt uns zu, schrubbt routiniert ihre Hände ab und verschwindet im OP-Saal. Durch die Glasscheibe sehe ich, wie die Schwester die mollige Vorzeige-PJlerin in das grüne Outfit verpackt. Einer der Chirurgen schaut auf; er wirkt erleichtert, winkt Sabrina heran und sie übernimmt geschickt die Haken. Und hier draußen stehe ich und fühle mich winzig klein.
»Blöde Kuh«, sagt Jenny inbrünstig. »Dafür hassen wir sie jetzt für immer, okay?!« Sie streckt die Arme aus und dankbar falle ich hinein.
Es dauert zwanzig Minuten, bis wir wieder zur Visitegruppe dazustoßen. Dr. Gode sieht mich überrascht an, lächelt dann aber.
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