Miss Emergency
und die Gehstützen müssen Sie trotzdem benutzen. Es sei denn, Ihr Beruf belastet Sie auch körperlich. Dann sollte ich Sie für etwa drei Monate arbeitsunfähig schreiben.« Kann sie ja nicht wissen, dass ich das gar nicht ganz allein entscheiden darf.
Meine Strenge macht Eindruck. »Das geht auf keinen Fall!«, japst Frau Jahn nach Luft. Sie tut mir leid, trotz ihrer Arroganz.
»Machen Sie doch mal eine Pause«, sage ich freundlich. »Kein Mensch kann von Ihnen verlangen, dass Sie selbst von hier aus noch zur Verfügung stehen und damit Ihre Heilung gefährden.«
Frau Jahn schüttelt den Kopf, aber sie wirkt plötzlich gar nicht mehr überheblich. »Doch«, entgegnet sie leise, »ich.«
Eine halbe Stunde später sitze ich immer noch an Frau Jahns Bett. Als sie erst einmal angefangen hat, von ihrer Arbeit zu sprechen, gibt es kein Halten mehr. Sie leitet eine Firma, die offenbar nichts anderes tut, als Gelder in andere Unternehmen zu investieren. Frau Jahn verdient ihren Lebensunterhalt mit dem An- und Verkauf von Firmen, Wertpapieren und Rohstoffen. Und leider läuft es gerade ganz mies. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie ziemlich schlecht eingekauft und zu viel Geld in Dinge investiert, die sie nicht wieder loswird. Und nun gehen ihr die Mittel aus, sie hat ein Aktienpaket nicht abstoßen können und ein Unternehmen, das sie schon fast sicher weitervermittelt hatte, ist plötzlich in Verruf geraten, weshalb ihr der Käufer abgesprungen ist. Zu diesem denkbar schlechten Zeitpunkt liegt sie nun ausgerechnet wegen eines albernen Meniskusschadens im Krankenhaus, während ihre Firma existenzbedrohende Verlustemacht. Frau Jahn gibt zu, dass sie vom Krankenbett aus versucht hat, ihre Firma zu retten – und dass sie die Klinik erstens so schnell wie möglich verlassen muss und es sich zweitens nicht erlauben will, sich danach angemessen zu schonen. Sie wirkt zittrig, aber als sei es eine Befreiung, endlich über ihre Sorgen zu reden.
»Ich kann das sonst niemandem sagen …« Sie blättert mit bebenden Fingern im Notizbuch. »Nach außen muss man immer tun, als hätte man unbegrenzte Mittel, sonst springen einem die letzten Kunden auch noch ab.«
Ich versuche, ihr gut zuzureden; es wird schon alles in Ordnung kommen. Aber sie braucht Kraft – und sollte sich deswegen wenigstens noch zwei Tage vollkommen schonen. Ich ahne schon, dass sie widerspricht. Und als sie das tut, erkläre ich so autoritär ich kann, was für Komplikationen möglich sind, wenn sie sich zu schnell und unvernünftig wieder in den Arbeitsstress stürzt.
»Aber wenn ich nicht übermorgen wieder voll einsatzfähig bin, brauche ich gar nicht zurückzukommen«, flüstert sie. »Dann bin ich ruiniert und kann gleich für immer hier liegen bleiben!«
Ich nehme ihr das Büchlein aus der Hand und lege es in die Lade zurück. »Was wäre denn schlimmer?«, frage ich sanft. »Wenn die Firma ruiniert ist – oder Sie?«
Frau Jahn nickt ergeben, aber ich glaube nicht wirklich, dass sie einsichtig ist. »Heute hat auch schon keiner mehr angerufen …«, sagt sie schwach und wirft einen Blick auf das Telefon in der Schublade. Sie fährt hoch wie vom Schlag getroffen. »Es ist aus! Jemand hat mich abgeschaltet! Das ist ja schrecklich!«
Ich sage nicht, dass ich das war, und versuche, ihr das Handy wegzunehmen. Doch sie hat es schon eingeschaltet, tippt mit zitternder Hand den Code ein. Unheilvolles Piepsen setzt ein und zeigt, dass es nach dem Abschalten des Telefons noch mindestens zwanzig Anrufversuche gab. Frau Jahn ist den Tränen nah. »Oh mein Gott, ich muss mich melden!« Sie sieht mich bebend an. Na klar, ich soll gehen. Aber ich bleibe an ihrem Bett stehen und versuche, ruhig zu bleiben.
»Hier darf man nicht telefonieren«, sage ich beherrscht. Frau Jahn bettelt fast herzergreifend.
»Verstehen Sie nicht? Mein Beruf ist mein Leben. Ich stehe dafür gerade. Man tut alles dafür! Es ist einem egal, ob andere es richtig oder falsch finden.« Und damit hat sie recht. Ich nehme ihr das Telefon aus der Hand. Ganz ruhig, Lena. Du tust das Richtige – und jetzt sollte es DIR egal sein, wie falsch und schrecklich das Frau Jahn findet.
»Sie müssen sich ausruhen, Frau Jahn«, sage ich bestimmt. »Ich kann die Oberärztin hierherrufen und darum bitten, dass Sie sediert werden. Oder ich stecke jetzt das Handy ein – und Ihr Notizbuch gleich mit – und Sie ruhen sich so lange aus, bis ich es Ihnen wiedergebe.« Frau Jahn nickt. Ich
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