Miss Emergency
stehen wir auf einer Art Aussichtsplattform. Unter uns liegt Berlin, es funkelt und wirkt riesengroß. In der Mitte der Plattform steht ein rundes Gebäude, gedämpftes Licht dringt heraus, doch es stört nicht. Ich trete an das Eisengeländer und sehe über die Stadt.
»Schau mal da!« Tobias’ Stimme ist plötzlich ganz nah. Er steht hinter mir, zeigt über meine Schulter. »Erkennst du es?« Ein hell erleuchtetes Bauwerk. Ein Wagen mit Blaulicht fährt gerade vor. St. Anna. Ich bin überrascht, wie klein es von hier aus wirkt. Tobias legt den Arm um mich, ich lehne mich an ihn, könnte für immer hier stehen bleiben. Hinter der Klinik rattert ein beleuchteter S-Bahn-Zug vorbei, ich versuche, die Stationen zu verfolgen, um herauszufinden, wo unsere Wohnung liegt. Vergeblich, Berlin ist zu groß.
»Ich kann meine Wohnung nicht finden!« Ehe ich es mich versehe, habe ich schon wieder ausgesprochen, was ich denke, jetzt hält er mich garantiert für kindisch.
Doch er lacht, überlegt kurz und zeigt dann vage in eine Richtung. »Dort hinten muss es sein. Schau mal, mein Haus sieht man dafür ausgezeichnet.« Ha ha, ich KENNE ja dein Haus nicht! Er deutet nach links, schemenhaft erkenne ich ein Altbauviertel, mehr nicht. »Ich würde so gerne deine Wohnung sehen«, sage ich, wieder ohne zu überlegen.
»Sie ist wirklich unspektakulär«, antwortet er. Warum? Will er mich dort nicht haben? Versteht er nicht, dass ich irgendwas brauche? Ich möchte die Gewissheit haben, dass ich wenigstens in seinem Feierabendleben einen Platz bekommen kann! Und nicht das blöde Gefühl kriegen, er wolle uns nie mehr Nähe zugestehen als das hier.
»Du siehst sie schon noch«, sagt er und ich fühle mich mal wieder wie das blöde Kätzchen. Zu sehr angeschmiegt, am Nackenfell weggesetzt. (»Pah«, schnaubt der Kopfteufel, »wahrscheinlich hat er überhaupt keine Wohnung. Er lebt in seinem Auto und kuschelt sich dort allabendlich in seinen Kittel gehüllt zwischen Vordersitzen und Rückbank zusammen.«)
»Komm, es wird kalt!«, sagt Tobias.
Na toll, war es das schon wieder? Ich stolpere enttäuscht in Richtung Treppe. »Was ist?«, fragt er hinter mir. Was soll schon sein?! Ich gehe verdrießlich nach Hause in mein Bett! Doch als ich mich umdrehe, steht er vor dem runden Bau in der Mitte der Plattform und hält mir die Tür auf. »Keinen Hunger?«
Das runde Haus ist ein Restaurant, winzig klein, aber fast leer. Warum? Wissen die Berliner nicht, wie herrlich die Aussicht, wie romantisch die kleinen Nischen hier sind? Halt, stopp, wenn sie es alle wüssten, wäre es nicht so einsam, die Aussicht verstellt und die Romantik flöten. Ich geniere mich kurz für meine abgeliebte Jeans. Typisch Lena: Wenn du dich in schicke Strickkleid-Schale wirfst, geht alles schief und wenn du romantisch ausgeführt wirst, hast du garantiert nicht mal eine saubere Jeans an. Aber weder Tobias noch der Kellner scheinen sich daran zu stören. Wir bestellen Pasta, Tobias sucht Wein aus und ich habe noch niemals niemals niemals so gut gegessen.
»Glückwunsch! Auf deine erste halbe OP!«, sagt Tobias, als wir anstoßen. Leise Musik spielt, wir unterhalten uns und durch zeitlichen Abstand und zwei Glas Wein bin ich fast mit meinem Aussetzer versöhnt. Tobias findet es ebenfalls nicht schlimm, dass ich nicht bis zum Zunähen durchgehalten habe. Dann hebt er das Glas in Richtung Krankenhaus und sagt: »Und jetzt können sie uns alle gestohlen bleiben!«
Nach dem herrlichen Essen bleiben wir sitzen, solange es mit einigem Anstand vertretbar ist. Auf dem Heimweg sprudelt es immer noch in mir. Tobias fährt mich nach Hause, wir küssen uns zum Abschied. Ich werde ganz übermütig, wenn ich daran denke, dass wir uns vielleicht morgen in der Klinik wiedersehen und wortlos aneinander vorbeigehen werden. Dass all die anderen dort keine Ahnung haben. »Halt die Augen offen!«, sage ich draufgängerisch. »Vielleicht gebe ich dir morgen mal ein geheimes Zeichen!«
Er küsst mich und lacht. »Untersteh dich!« Dann steigt er ins Auto und braust davon und ich sehe ihm nach. Wie immer ziemlich durcheinander, aber verrückt glücklich.
W er bist du denn?«, fragt mich ein Junge im OP-Kittel, als ich die Wohnungstür öffne – und ignoriert, dass die Frage umgekehrt weitaus gerechtfertigter wäre.
»Das ist doch Ohnmachts-Lena«, grinst ein Typ, der hinter ihm in den Flur tritt, ebenfalls im OP-Kittel. Was ist hier los? In der Küche setzt Musik ein, ein Schlager,
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