Miss Emergency
Nachttisch neben die Gummi-Leber. Dann stehe ich eine geschlagene Minute davor und betrachte die beiden Überbleibsel. Wie um alles in der Welt passen diese beiden Welten zusammen? Sie müssen von zwei grundverschiedenen Frauen stammen. Zwei Lenas. Eine, die mit einem erwachsenen Oberarzt bei Wein und Stadtausblick über die Klinik diskutiert. Und eine andere, die mit schiefem OP-Häubchen zu »Schnippe-di-schnapp« durch die Wohnung hopst. Das ist definitiv niemals an der Seite eines Oberarztes denkbar. Ich habe beide Lenas gern. Muss ich mich wirklich zwischen ihnen entscheiden?
Der Junge an der Tür hatte berechtigten Grund zu seiner Frage. Ich weiß gerade auch nicht, wer ich bin.
D er nächste Morgen beginnt mit einer Oberarztvisite. Ich gebe zu, dass ich ein wenig Angst vor der Begegnung mit Dr. Thiersch habe; ich wünschte, ich hätte bei meinem ersten OP-Einsatz einen besseren Eindruck gemacht. Doch heute hat sie erstaunlich gute Laune – glaube ich. (Man sieht es ihr ja nicht an, nur das Ausbleiben von Gemeinheiten ist ein Indiz dafür.) Meinen Ohnmachts-Ausfall erwähnt sie mit keinem Wort; als ich ihr Frau Jahn vorstelle, nimmt sie meine Zusammenfassung mit einem Nicken hin und widerspricht weder, noch führt sie mich vor. Ich berichte, dass gestern ein erster Physiotherapietermin stattfand und in einer Woche das Nahtmaterial entfernt werden sollte. Ich wechsle einen kurzen Blick mit Dr. Gode. Soll ich die stationäre Reha noch einmal ansprechen? Er schüttelt unmerklich den Kopf und übernimmt es selbst.
»Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihrem Alltag schon wieder gewachsen sind?«, fragt er Frau Jahn. »Sie könnten sich wenigstens für zwei Wochen in einer Rehabilitationsmaßnahme erholen.«
Frau Jahn schüttelt energisch den Kopf. »Je schneller ich hier raus bin, desto besser.«
Dr. Thiersch macht einen Haken in die Akte. »Die Schwellung ist zurückgegangen, die Patientin fühlt sich fit. Wir entlassen sie morgen«, sagt sie – und schon stiefelt sie aus dem Raum.
Bei Paula Schwab bleibt die Oberärztin etwas länger. Jenny stellt die Patientin vor; die blutchemische Laboruntersuchung ist erledigt, alles ist bereit. »Erythrozytenkonzentrate bestellen, abführendeMaßnahmen einleiten, ab heute nur noch Brühe«, sagt Dr. Thiersch. »Wir operieren morgen Nachmittag.« Es klingt hart, aber dieser Tonfall kommt bei Paula Schwab besser an als Dr. Godes aufmunternde Freundlichkeiten.
»Endlich«, seufzt sie und sieht Jenny an. Jenny drückt ihre Hand, ich spüre, wie aufgeregt sie ist. Dr. Thiersch nickt ihr zu. »Zum Aufklärungsgespräch können Sie mitkommen. Sie sprechen, ich kontrolliere. Wenn Sie das sauber hinkriegen, dürfen Sie assistieren.« Jenny nickt ernsthaft zurück und ich ahne, wer sich sofort mit einem Lehrbuch verdrücken wird.
Frau Zietler ist noch sehr schwach, doch sie lächelt mich an, als wir das Zimmer betreten. Ich gehe davon aus, dass ich die Patientin vorstellen werde. Zwar ist das nicht explizit vereinbart, doch da ich Frau Zietler bereits kenne und in den OP begleitet habe …
»Ihre Patientin«, sagt Dr. Thiersch in meine Richtung. »Wollen doch mal sehen, ob Sie mehr Haltung bewahren können, wenn die Patientin wieder zugenäht ist.« Aha, da ist sie doch noch, meine Rüge. Zusammenreißen, Lena, du bist nicht beleidigt, nur professionell!
»Atemgymnastik, heute flüssige Kost, ab morgen feste Kost«, erkläre ich ruhig. »Wir führen die Antibiose noch einen Tag fort.«
Dr. Thiersch unterbricht mich. »Vergessen Sie die Thromboseprophylaxe nicht!«
Natürlich nicht, ich bin hier doch nicht das Blondchen! Hättest du mich ausreden lassen, wäre ich gleich darauf zu sprechen gekommen. Da es jetzt nicht mehr reicht, einfach noch »Thromboseprophylaxe« hinterherzusagen, werde ich etwas ausführlicher. »Es sollte niedermolekulares Heparin gegeben werden«, doziere ich möglichst unbeeindruckt. »Die Patientin hat ein mittleres Thrombembolie-Risiko, weil der operative Eingriff länger als 30 Minuten dauerte.« So. Ich HABE nämlich meine Hausaufgaben gemacht. Doch wieder ernte ich keine Anerkennung.
Dr. Thiersch lächelt dünn. »Sehr gewissenhaft, Frau Weissenbach. Ich frage mich nur, woher Sie wissen, wie lange der Eingriffgedauert hat.« Verdammt! Bei dieser Frau kann ich mich auf den Kopf stellen! Sie will mich einfach nicht akzeptieren! Meine Laune ist hin.
Dr. Gode versammelt uns zu einem Nachgespräch im Arztraum und schenkt fürsorglich Kaffee aus.
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