Miss Emergency
»Machen Sie sich nichts draus«, lächelt er mich an. »Sie muss Sie ein wenig piesacken, um sich darüber hinwegzutrösten, dass sie Ihnen nichts mehr vorwerfen kann.« So wie er es sagt, klingt es verständlich, verzeihbar, als könnte man gelassen darüberstehen. Nur ICH kann es irgendwie nicht. »Wenn es Ihnen hilft«, schmunzelt Dr. Gode, »werde ich Sie stattdessen ein wenig bevorzugen.«
Ich weiß, es ist erbärmlich, aber ich brauche dringend Bestätigung. »Ja bitte«, sage ich deshalb kläglich.
Ich bereue es eine Stunde später. Beim Mittagessen nämlich dreht Dr. Gode die Bevorzugungs-Masche voll auf. Er lässt mich in der Essens-Schlange vor, kauft mir dann auch noch ein Stück Kuchen und überreicht es mir vor allen mit den Worten »Meiner aufbaubedürftigen Lieblings-PJlerin«. Ruben grinst. Hinter mir steht Schwester Klara aus der Inneren und verzieht das Gesicht. Und in diesem Moment bemerke ich Tobias am Ende der Schlange und werde RICHTIG verlegen. Zum Glück rettet mich Jenny vor der allgemeinen Peinlichkeit; sie strahlt Dr. Gode an und fragt, wie er diese offensichtliche Bevorzugung und die damit einhergehenden Minderwertigkeitsgefühle der anderen PJler mit seinem Gewissen vereinbart. Mit dem Ergebnis, dass er auch für Isa und Jenny Kuchen kauft. Doch den seltsamen Blick, den ich von Tobias eingefangen habe, kann das nicht aus der Welt schaffen.
»Ihr glaubt nicht, wie mir davor graut«, sagt Jenny mit vollem Mund. Ich bin etwas abgelenkt, weil ich versuche, Tobias über die gesamte Breite des Raumes mit Blicken zu verstehen zu geben, dass Kuchengeschenke und öffentliche Lobeshymnen eines feschen Stationsarztes mir rein gar nichts bedeuten. »Kannst du vielleicht mal für eine Sekunde Anteil nehmen?!« Jenny krümelt Kuchen über meinen Kittelärmel. Ich entschuldige mich undwerfe endlich einen Blick in das Lehrbuch, das Jenny zum Essen mitgebracht hat. »Möchtet ihr jemandem so was androhen müssen? Wie macht man das?«
Na klar, es geht um Paulas Aufklärungsgespräch. Jenny hat inzwischen rekapituliert, was bei einer Gastrektomie alles schiefgehen kann. »Verletzung innerer Gefäße und Organe«, liest sie vor, »Anastomoseninsuffizienz, Duodenalstumpfinsuffizienz, Interponatnekrose. Das will man doch keinem Menschen sagen müssen!« Isa und ich wechseln einen mitleidigen Blick. »Intraabdominelle Blutung, Abszess, Letalität zwischen 5 und 10 Prozent!« Jenny hört gar nicht mehr auf. Es hilft nichts, ich nehme ihr schließlich einfach das Lehrbuch weg.
»Wenn du dich verrückt machst, wird sie nur auch nervös. Du gehst da jetzt rein und verkaufst ihr das als bloße Formsache. Sie muss über alles aufgeklärt werden, aber nichts davon wird passieren. Am Ende sagst du, dass sie euch vertrauen soll und dass du dir eher selbst eine intraabdominelle Blutung zufügst, als irgendwas zu riskieren.«
Meine sonst so flapsige Freundin sieht mich mit großen Augen an, aufrichtig. »Aber ich weiß nicht, ob ich MIR so weit vertraue …«, sagt sie leise.
»Du machst es nicht allein!«, entgegne ich eindringlich. »Und wenn du im OP anfängst, über die Risiken nachzudenken, kannst du erst recht alles versauen!« Jenny nickt bedrückt.
Isa lächelt sie an. »Für Paula ist das Wichtigste, dass du dabei bist. Und wenn du jetzt vor dem Gespräch kneifst, erfährt sie von Dr. Thiersch, wie hoch die Letalität ist – und die formuliert es vielleicht nicht so einfühlsam.«
Das überzeugt Jenny. Sie atmet tief durch, schnappt sich das Lehrbuch und steht auf. »Dann gehe ich mal verhindern, dass die Eisprinzessin meiner Patientin ins Gesicht sagt, dass wir sie mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit umbringen werden.« Sie verlässt die Cafeteria. Keiner von uns möchte mit ihr tauschen.
Jenny übersteht das Gespräch. Und als ich am Nachmittag Frau Zietlers Proben ins Labor bringe, werde ich Zeuge, wie siesich mal wieder auf ihre ganz eigene Art tröstet. Ich bin offenbar leiser als gedacht die Treppe hinaufgestiegen und erkenne oben am Treppenabsatz Jenny und Felix, die miteinander knutschen. Mann, wie peinlich! Ich will nicht an ihnen vorbeigehen, deshalb steige ich wieder einen Absatz nach unten und nehme den Fahrstuhl.
Als ich aus dem Aufzug trete, steht Jenny schon wieder auf der Station und füllt ihren Kanülenwagen für die Nachmittagsrunde, als sei nichts gewesen. Na meinetwegen, soll sie doch ihre Ablenkung haben! Aber offenbar gab es noch einen zweiten Zeugen für das
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