Miss Emergency
dessen Refrainzeile »Schnippe-di-schnapp, Bein ab« das Dümmste ist, was ich je gehört habe. Benommen stolpere ich durch die Wohnung. Ich treffe noch mehr Menschen in OP-Verkleidung, in Jennys Zimmer tanzen sie auf das Albernste zu dem blöden Schlager.
Isa zuckt hilflos die Schultern. »Jenny …« Aber sie muss mir nichts vormachen; auch sie trägt eine kesse OP-Haube. Jenny selbst finde ich in der Küche, begeistert stülpt sie mir ein Häubchen über, ehe ich mich wehren kann. »Wir hatten doch ausgemacht, dass wir das feiern«, ruft sie fröhlich und zeigt mir stolz das Buffet auf dem Küchentisch. Es sieht einfach eklig aus. Gummiglibber und blutrote Götterspeise. Aus Würstchen, Mandeln und Ketchup hat jemand etwas arrangiert, das wie abgeschnittene Finger aussieht. Eine Komposition aus Blumenkohl und rotgefärbtem Püree erinnert zum Übelwerden echt an Gehirn. Ich habe kein Halloween erlebt, an dem es widerlichere Speisen gab. Typisch Jenny. Ich bin nur ein klein wenig verschnupft, irgendwie war mir jetzt nach Im-Bett-Liegen und Träumen, stattdessen ist die Wohnung voll übermütiger Gäste in Fantasie-Chirurgen-Kostümen. Das Mädchen, das als Nächstes in die Küchekommt, kenne ich wenigstens; eine Freundin von Jenny. Nicole? Nina? Nadine?
»Glückwunsch, Lena!« Sie küsst mich ungeniert mitten ins Gesicht. »Wir sind so stolz auf euch!« Sie drückt mir ein Glas voll wabberiger roter Flüssigkeit in die Hand – woran es erinnern soll, muss ich wohl nicht erwähnen. »Unglaublich!« NinaNicoleNadja stößt überschwänglich mit mir an. »Jetzt habt ihr tatsächlich alle jemand Lebendigen operiert! Ich wünschte, ich hätte so was Tolles vorzuweisen!«
Jenny legt den Arm um mich und sagt: »Das Schlimmste haben wir überstanden. Von nun an werden wir immer nur noch abgebrühter! Ist das etwa KEIN Grund zu feiern?!« Und ich bin auf einmal vollkommen versöhnt damit, dass meine Oberarztessens-Nachlese ausfällt. Denn mir wird klar, dass man sich an die erste OP wohl ein Leben lang erinnert – und nun werden die Bilder meiner Ohnmachts-Schmach sicher für alle Zeit von den Eindrücken dieser verrückten Party überlagert sein. (Nur gut, dass ich das romantische Essen hatte, sicher würde ich weder das Wabbelgehirn noch die Würstchenfinger herunterkriegen.)
Die Party hat auch vor meinem Zimmer nicht haltgemacht; dort sitzen vier angetrunkene Mädchen auf dem Bett und spielen ein seltsames amerikanisches Brettspiel, bei dem man mit Plastikschere und Plastikzange stilisierte Innereien aus einem Puppenkörper operieren muss.
»Igitt, mir ist ja DAS schon eklig«, ruft mir eine der Grazien zu. »Wie haltet ihr das aus?!« Ich lasse mich überreden, mit dem Plastikinstrumentarium fachgerecht die Leber aus dem Gummikörper zu extrahieren – und falle dabei NICHT in Ohnmacht.
Zu meiner Überraschung ist auch Felix eingeladen. Er macht einen netten und lustigen Eindruck, viel offener als Björn. Dafür raucht er in meinem Zimmer, ohne sich um mich zu scheren, und drückt die Kippe in meinem Blumentopf aus. Das würde Björn sicher nie tun. Nur einen kurzen Moment, als Jenny hemmungslos mit Felix herumknutscht, frage ich mich, was sie wohl Björn erzählt hat. Zum Glück ist DAS nicht mein Problem.
Auch Tom ist da; mit Isa im Arm steht er am Rand der improvisierten Tanzfläche und betrachtet amüsiert das Spektakel. Schwupp, da ist sie wieder, die gemeine Lena-Schwermut. In meiner Fantasie ist kein einziges Szenario denkbar, das Tobias in so eine Feierei einschließt.
»Das wird mir fehlen«, sagt Isa leise. Tom gibt ihr einen Kuss und entgegnet: »Wir werden genau solche Partys geben, versprochen. Die Bayern können auch wild feiern, glaub mir!« Vielleicht ist das unsere letzte Party zu dritt? Ich muss Isa ganz schnell in den Arm nehmen, sie fehlt mir jetzt schon so furchtbar. Gegen die Melancholie hilft nur eins: Ich schnappe mir meine Mädchen und ziehe sie auf die Tanzfläche. Zu dritt tanzen wir wie angestochen zu den dämlichen Schlagern durch Jennys Zimmer. Was immer da kommt, soll mir doch mal für fünf Minuten gestohlen bleiben!
Als die letzten singenden Fake-Chirurgen unsere Wohnung verlassen haben, sammle ich die Plastik-Innereien aus meinem zerwühlten Bett. Schon wieder ist viel zu wenig Schlafenszeit übrig. In meiner Hosentasche finde ich eine Streichholzschachtel aus dem kleinen Restaurant. (Ich muss ja immer Sentimentalitäts-Andenken einstecken.) Ich lege die Schachtel auf den
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