Miss Emergency
Oberärztin zum ersten Mal überrascht? Sie sieht auf die Uhr. »In spätestens einer Stunde. Ich lasse Sie holen«, sagt sie fast freundlich. »Aber rechnen Sie nicht damit, dass Sie dann schon mit ihr sprechen können.«
Damit scheint das Thema vorerst erledigt. Dr. Thiersch konsultiert ihre Liste und verteilt Assistenzen für die anstehenden Operationen. Eine Sprunggelenksprothese, die Ileozökalresektion einer Morbus-Crohn-Patientin und ein Patient mit Colitis ulcerosa. Dr. Thiersch schaut in die Runde, ihr Blick bleibt an Sabrina hängen. »Das könnten Sie übernehmen. Eine Proktokolektomie macht sich gut in Ihrer Bewerbung.« Sabrina lächelt stolz und Dr. Thiersch lässt es sich nicht nehmen, ihrer Lieblings-PJlerin noch ein Extrakompliment zu schenken. »Die Gastrektomie haben Sie sehr gut gemacht, da ist eine kleine Belohnung nur angebracht.«
Ach, na toll. Frau Schulte erbt Paulas OP, darf sich sonderprofilieren und bekommt dann zur Belohnung NOCH EINE OP? Und was kriege ich?! Nein wie schäbig, Lena, jetzt denkst du auch schon so? Ja, du willst operieren. Aber pass auf – von diesem Neidgefühl ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Niedertracht. Willst du vielleicht anfangen, deinen Konkurrenten Koffeintabletten im Nachmittagstee aufzulösen, damit sie einen zittrigen Eindruck machen und du ihre OPs abstaubst?! »Du wartest, bis du dran bist«, sagt die Vernunftstimme. »Auf dieses Niveau begibst du dich nicht hinunter.« Ich gebe ihr recht und bremse damit gerade noch den kleinen Teufel aus, der doch schon maldarüber nachdenkt, wie sich das mit den Koffeintabletten bewerkstelligen ließe. Stattdessen melde ich mich für die beiden anderen OPs. Leider bin ich nicht die Einzige, alle wollen zeigen, dass sie mit Sabrina mithalten können. Selbst Jenny hebt die Hand. An ihrer Stelle würde ich das wahrscheinlich nicht wagen; es ist doch klar, dass sie keineswegs ausgewählt wird, sondern sich höchstens noch einen Spruch einfängt.
Und richtig: Dr. Thiersch mustert Jenny von oben herab und fragt spitz: »Ihnen ist aber klar, dass Sie eine ganze Menge Einsatz beweisen müssen, bevor ich Sie wieder einteile?«
Jenny nimmt langsam die Hand herunter. »Aber ich kann ja schlecht Einsatz zeigen, wenn ich mich nicht mal um eine OP BEMÜHE, oder?«
Na, das war garantiert wieder zu frech für unsere Schneekönigin – war ja klar, dass Jenny die neue Demut nicht lange durchhält. Aber Dr. Thiersch ist nicht pikiert, stattdessen nickt sie knapp. »Das stimmt natürlich.« Ich bin nicht schlecht überrascht. Selbstverständlich wird Jenny nicht eingeteilt und ich will gar nicht wissen, wie oft sie sich noch vergebens bemühen muss, bevor ihr verziehen wird – trotzdem hat die Oberärztin in diesem Moment ein paar Punkte bei mir gutgemacht. Und ich? Wie oft muss ich mich noch melden? Auch meinen Finger übersieht Dr. Thiersch. Die Sprunggelenksprothese geht an Bert. Bei der Ileozökalresektion wandert Dr. Thierschs Blick ebenfalls uninteressiert über mich hinweg. Ich erwarte schon, dass sie auch dafür einen Mann einteilt und lasse doch noch einmal den kleinen Teufel zu Wort kommen, der mir den Koffeintabletten-Trick allmählich schmackhaft machen könnte. Doch die Eisprinzessin übergeht alle männlichen Finger und nickt Isa zu. »Sie. Beim letzten Mal hat es ja gut geklappt.« Isa strahlt mit roten Bäckchen und ich bin ein wenig versöhnt. Wenn ich es jemandem gönne, an mir vorbeizuziehen, dann doch wohl ihr. »Sehr nett, Lena«, sagt der Teufel. »Und wann wolltest DU noch mal Karriere machen?!« Aber diesmal lässt er sich leichter unterdrücken, ein Blick in das glückliche Gesicht meiner Freundin genügt.
Jenny und ich ziehen also mit unseren Wagen los und gönnen uns nur einen kleinen Augenblick des gegenseitigen Mitgefühls unter Benachteiligten. Ich überprüfe Frau Zietlers Blutwerte und lege fest, dass sie schon heute Mittag wieder feste Kost zu sich nehmen kann. Anna Zietler darf heute zum ersten Mal aufstehen und fragt, wie ich die Chancen einschätze, dass sie am Abend mit ihrem Mann einen kleinen Spaziergang unternehmen kann. Sie möchte so gern den ersten Schnee sehen. »Wissen Sie«, lächelt sie, »normalerweise unternehmen wir immer einen Ausflug zum Grunewald, wenn es zum ersten Mal schneit.« Sie schaut mich sehnsüchtig an. »Dort hat er mir nämlich den Heiratsantrag gemacht, im Grunewald, im Schnee …« Ich bin mädchenmäßig gerührt und verspreche spontan, dass sie ihren
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