Miss Emergency
abhängig geworden, dass du nicht einen Abend ohne ihn erträgst? Quatsch, sage ich mir selbst vor, sei nicht albern! Aber ich wate durch den Abend wie durch frischen Zement.
A m Morgen ist alles weiß. Jenny stürmt im Nachthemd in mein Zimmer und reißt die Vorhänge auf. Das Licht ist anders, ich springe aus dem Bett und zu ihr ans Fenster und wir bewundern ausgiebig die dünne Schneedecke, in der sich erst wenige Fußspuren abzeichnen. Es ist Anfang November, der Schnee wird vor dem Jahresende sicher noch einmal tauen, trotzdem habe ich plötzlich ein ganz heimeliges Vorweihnachtsgefühl.
Wir frühstücken heute ausnahmsweise in Jennys Zimmer, wo man vom Bett aus in die zaghaft beweißten Bäume sieht. Zu dritt sitzen wir mit unseren Kaffeetassen auf dem breiten Bett, so gemütlich und einträchtig, dass wir uns nicht trennen können, bis es allerhöchste Zeit ist, nach der S-Bahn zu rennen, wenn Jenny noch vor Dienstbeginn nach Paula sehen möchte. Noch gestern Abend waren wir alle drei in schrecklich gedrückter Laune. Jenny blieb zu Hause, um sich Vorwürfe zu machen und ließ die Anrufe ihrer beiden Verehrer unbeachtet ins Leere klingeln. Isa kam reichlich deprimiert von ihrer Verabredung mit Tom; ihre Entscheidung hat ihn schwer getroffen. Dass Isa nach Hause kam, statt bei ihm zu übernachten – da ihnen doch nur noch wenige gemeinsame Nächte bleiben –, wirkte wie ein schlechtes Zeichen. Und ich fühlte mich in der Pflicht, meinen Freundinnen beizustehen und hätte es ziemlich schäbig gefunden, mich zwischendurch zu einem telefonischen Oberarzt-Geplänkel zurückzuziehen. (Okay, irgendwie war ich mir auch nicht ganz sicher, was man da sagt …) Mitten in der Nacht fiel mir ein, dass eineSMS sowieso viel besser gewesen wäre – aber leider erst zu einer Zeit, zu der jede noch so locker formulierte Nachricht verzweifelt gewirkt hätte. Also allgemein unzufriedene bis unglückliche Stimmung; der Abend endete mit reihum verteilten Mitgefühlsbekundungen und verspäteten Schuldgefühlen wegen der ungeheuren Mengen Schokolade, die dabei vertilgt wurden.
Heute Morgen ist alles heller, freundlicher, zuversichtlicher. Nach dem schmutzigen Herbst ist die gnädige Schneedecke über Berlin eine wahre Wohltat, auch wenn sie noch so dünn ist. Wie die Kinder schnappen wir uns jede eine Handvoll Schnee – zu mehr reicht es noch nicht – und bewerfen uns damit. Ich schütze übertrieben aufmerksam eine Thermokaffeetasse vor Schneeballbewurf, die zurückzugeben ich gestern keine Gelegenheit hatte und die ich mir heute in einem Anfall von Verkitschung für den Arbeitsweg gefüllt habe. Heute ist es, als könnte uns niemand etwas anhaben. Jenny ist entschlossen, gleich der eisigen Oberärztin entgegenzutreten und sich für ihre Privatleben-Dienst-Vermischung untertänig zu entschuldigen. Und ich benutze endlich meine neue Kurzwahltaste. Ich tippe »Guten Morgen!« und »Geisel-Kaffeetassen-Austausch heute Abend?« – und schicke es schnell ab, bevor meine Unsicherheit zuschlagen und den Spontantext zu genau auf mögliche unbeabsichtigte Deutungsmöglichkeiten analysieren kann.
Als ich meine Tasche im Spind verstaue, samt der Thermotasse, die ich schon an der S-Bahn-Station sorgfältig in den Untiefen der überfüllten Handtasche verborgen habe, meldet mein Telefon eine neue Nachricht. »Übergabe ab 7, als Gegenleistung solltest du mindestens ein Essen verlangen.« Ich strahle so, dass meine Freundinnen behaupten, ich liefe Gefahr, die Sprinkleranlage auszulösen. Was soll heute schon schiefgehen?!
Wir begleiten Jenny auf die ITS, doch Paula ist noch nicht bei Bewusstsein. Die diensthabende Schwester ist sehr nett und verspricht, Jenny persönlich über jede Änderung im Zustand der Patientin zu informieren. Wir treten pünktlich auf unserer Station an, heute gibt sich die Eisprinzessin mal wieder selbst dieEhre. Jenny benimmt sich vorbildlich. Sie steht in unserer Mitte, nicht so weit hinten, dass sie eingeschüchtert und nicht so weit vorn, dass sie trotzig wirkt. Sie schafft es sogar, nicht beleidigt auszusehen, als Dr. Thiersch sie herablassend fragt, ob sie sich heute in der Lage fühle, ihren Dienst nach Vorschrift zu absolvieren. Jenny nickt nur.
»Wenn die Patientin Schwab aufwacht, würde ich gerne zu ihr gehen«, sagt sie sachlich. »Aber selbstverständlich werde ich den dadurch entstandenen Arbeitszeitausfall in der Mittagspause nacharbeiten.«
Irre ich mich – oder wirkt die kühle
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