Miss Emergency
egal, wer mich sieht. Wenn er doch nur bald käme … der Rest interessiert mich nicht. Leider kommt erst mal jemand anderes. Schwester Jana trottet über den Parkplatz, ihr Gesicht leuchtet verwundert auf. »Was machst du denn hier, Mäuschen?« Ich zucke die Schultern. Haltung, Lena! Du hast dein Geheimnis so lange und mit so viel Mühe gehütet – du wirst es doch jetzt nicht aus purer Erschöpfung preisgeben! Ich erzähle ihr eine laue Geschichte. Sie ist überrascht, dass ich auf meine Freundinnen warte; sind wir nicht zur selben Zeit gegangen? Ich bin zu müde. Auch meine Erklärung, wer warum noch mal hineingegangen sei, gerät etwas lahm. Leider geht Jana nicht, stattdessen schildert sie ausführlich ihre Wochenendpläne, um mir die Wartezeit zu verkürzen. Oh Mann, echt nett, aber könntest du jetzt gehen? Sie tut mir den Gefallen nicht.
Eben überhöre ich ihre Schilderung des wochenendlichen Großeinkaufs, als sich eine Gestalt in einer dunklen Jacke nähert. Meine Aufmerksamkeit ist schlagartig wieder da. Tobias.
»Guten Abend die Damen«, sagt er nett, »kann ich behilflich sein?«
Ich erweitere die blöde Geschichte von meinen verwirrten Freundinnen, die irgendwo hineingehen und nicht mehr herauskommen – nur für Schwester Jana. Dabei möchte ich mich doch einfach nur in seine Arme werfen und in aller Ausführlichkeit die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen (und meiner Oberärztinim Besonderen) bejammern. Tobias sieht an mir vorbei, mustert die Schwester und sagt dann etwas schroff: »Sie werden sich schon finden. Guten Abend.« Er steigt ein.
»Fräulein Weissenbach«, er fährt das Fenster nur wenige Zentimeter herunter, »Ihre Freundinnen sind wahrscheinlich schon an der S-Bahn. Es ist ziemlich idiotisch, hier unsinnig lang in der Kälte herumzustehen und sich eine Grippe zu holen. Sie haben eine Verantwortung Ihren Patienten gegenüber.« Damit lässt er das Fenster wieder hoch und fährt davon.
»So ein gefühlloser Klotz«, echauffiert sich Schwester Jana. »Er hätte doch fragen können, ob er uns mitnehmen soll!« Sie schnaubt empört. Ich aber muss mich ganz schön zusammenreißen, ihrer Entrüstung beizupflichten. So schnell es unauffällig geht, verabschiede ich mich von der Schwester und eile zur S-Bahn-Station. Und dort wartet mit laufendem Motor der grüne Wagen.
Tobias fängt mich auf. Ich sitze noch keine fünf Minuten im Auto, als ich bereits meine ganze OP-Absage-Enttäuschung vor ihm ausgebreitet habe. Er versteht meine Wut, meine Selbstzweifel aber blockt er ab. »Verlass dich drauf, Lena«, sagt er, »wenn du nicht gut wärst, würde dich niemand als Bedrohung empfinden. Es ist widerlich, dass solcher Neid und Konkurrenzkampf unter den Ärzten herrscht. Aber unsere Vorstellung von Ärzten, die Hand in Hand zum Wohl des Patienten arbeiten, ist nicht unbedingt alltagstauglich.«
»DU bist nicht so«, wehre ich mich. »Und ich will auch nicht so sein.«
Er lächelt mir zu. »Dann lass dich nicht beeinflussen. Versuch stattdessen, besser und besser zu werden, bis sie nicht mehr an dir vorbeikönnen. Und dann, wenn du selbst die Entscheidungen triffst, denk hieran zurück und mach es anders.« Natürlich, das klingt einfach, logisch, richtig. Wenn es doch nicht so schwer wäre! Tobias grinst plötzlich. »Wollte sich nicht jemand für die Chirurgie ein dickeres Fell zulegen?«
Ich lehne mich an ihn. »Kann ich das am Montag machen?«
Er nickt. »Du bist gut, Lena. Sei einfach, wie du bist.«
Es blubbert in meinem Bauch, in meinem Kopf. Ich bin gut. Es ist nicht nur, dass er das sagt. Sondern, dass er es so sagt, dass ich es ihm einfach glauben kann.
»Ich muss noch ein bisschen arbeiten«, sagt Tobias nach dem Essen. »Stört es dich?«
Ich schüttle den Kopf. Es tut so gut, hier zu sein. Es ist genauso schön, einfach an seinem Kamin zu sitzen und zuzusehen, wie er konzentriert ein paar verspätete Berichte schreibt. So normal. Als ob ich hierhergehöre. Ich schnappe mir ein paar überfällige PJ-Protokolle und mache mich ebenfalls an die Arbeit. Eine Weile sitzen wir schweigend über unseren Papieren, er am Schreibtisch, ich auf der Couch, mit einer dünnen Wolldecke zugedeckt. Zwischendurch muss ich immer wieder aufsehen, hinaus auf die verschneiten Bäume, hinüber zu Tobias. Ich weiß nicht, warum ich zu Hause mit den Protokollen nie so gut vorankomme. Es tut mir leid, mein heiß geliebter Glückskugelschreiber, du bist offenbar nicht ganz allein dafür
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