Miss Emergency
Kamin können sie kaum glauben. »Er wird doch in den vier Jahren mal eine Frau mit heimgebracht haben«, sagt Jenny kopfschüttelnd. »Ist er echt SO unromantisch,dass er nicht mal zur Frauenbeeindruckung Feuer macht?« Ehrlich gesagt ziehe ich die Vorstellung vor, dass er sonst KEINE Frauen mitgebracht hat.
Die Morgenbesprechung ist zum ersten Mal locker und angenehm; Dr. Thiersch ist ungewohnt guter Stimmung, als sie die PJler um ihre OP-Berichte bittet. Sabrina glänzt mit ihrem Report von der Proktokolektomie, sie durfte nicht nur die Bauchdecke verschließen, sondern sogar die Öffnungen der Dünndarmschlinge mit der Haut vernähen. Sie gibt nicht wirklich an, dafür nimmt sie die Sache viel zu ernst. Aber sie hebt deutlich hervor, dass die Chirurgen ihr besonderes Vertrauen geschenkt haben und vergisst nicht, zu erwähnen, wie sehr sie das ehrt. Ich finde es gerade wegen der herausgestellten Bescheidenheit einfach ätzend. (Nichts ist doch schlimmer als Angeberei in Demut verpackt!) Wenn Dr. Thiersch Sabrinas Wichtigtuerei missfällt, zeigt sie es nicht. Aber statt ihren Schützling besonders zu loben, erteilt sie Isa das Wort. »Sie haben gestern hautnah erfahren, was es bedeutet, wenn während einer OP Komplikationen auftreten, und sich vorbildlich verhalten. Ich glaube, Ihre Schilderung könnte für Ihre Kollegen etwas wertvoller sein als der vierte Bericht von einer planmäßig gelaufenen Muster-OP.« Sabrina sackt in sich zusammen wie ein angestochener Jahrmarktsballon; das war subtil, aber eindeutig.
Zum Glück ist Isa viel zu nett und bescheiden, um die Situation auszunutzen, sie berichtet gewissenhaft, ohne ihre Unsicherheit zu unterschlagen. Zur Belohnung bekommt sie heute die erste der beiden vakanten OPs zugesprochen. Es fehlt nicht mehr viel und meine zurückhaltende Freundin wird zum neuen Liebling der Oberärztin. Sabrina wird in der Beliebtheitsliste offenbar zurückgestuft, denn die zweite OP geht an Ernie. Ich sehe, wie Sabrinas hoffnungsvolles Lächeln erstirbt, als Dr. Thiersch an ihr vorbei auf den Konkurrenten zeigt, und habe schon fast wieder Mitleid.
Weder zu Jenny noch zu mir und meinem neuen Patienten sagt Dr. Thiersch ein einziges Wort. Jenny traut sich immerhin,bei der Absprache der Tagesaufgaben zu erwähnen, dass sie zwischendurch ihre Patientin auf der ITS besuchen möchte. Weil Paula noch viel schläft und zudem eine Menge Untersuchungen über sich ergehen lassen muss, wird Jenny ihren Besuch danach richten, wann Paula frei und wach ist; die ausgefallene Zeit arbeitet sie aber nach. Dr. Thiersch nickt nur. Ich wage es nicht, mein eigenes unangesprochenes Thema in die Runde zu werfen, sondern entscheide mich, Professor Dehmel einfach unkommentiert weiterzubetreuen. Wenn Dr. Thiersch findet, ein KHK-Patient sei zu hoch für mich, soll sie das doch selbst ansprechen! (Okay. Vielleicht hoffe ich doch ein wenig, dass ich so stillschweigend meinen Platz festige und schließlich wie selbstverständlich zu der Bypass-OP eingeteilt werde?)
Bevor an Professor Dehmels OP zu denken ist, sind noch jede Menge Befunde und Untersuchungen notwendig. Ich begleite den alten Herrn zum Röntgen und zur Ultraschalluntersuchung der hirnversorgenden Arterien. Er ist auch heute sehr höflich und trotz der anstrengenden Untersuchungen beherrscht charmant. Eine Unterhaltung über das Studium zu seiner und zu meiner Zeit führt dazu, dass er es sich zur Aufgabe macht, mir ein Promotionsthema auszusuchen. Er selbst ist Professor der Physik und hat von der Medizin und unserem Studienablauf gar nicht so viel Ahnung. Aber jedes Mal, wenn ich ihn von einer weiteren Untersuchung in Empfang nehme, hat er sich einen neuen Themenvorschlag überlegt. Die meisten haben mit Physik zu tun. Mal geht es um Strahlenschutztechniken, mal um Nuklearmedizin; als ich ihn von der Sonographie abhole, ist er sogar der Meinung, ich könnte ein ganz neues bildgebendes Verfahren entwickeln, das CT, MRT und Ultraschall alt aussehen lässt. Dass ich in Physik nie geglänzt und keinerlei Zukunftsabsichten in diesem Bereich habe, übergeht er. »Sie entdecken sicher bald Ihr Herz für die medizinische Physik. Ich fördere Sie doch!«, erklärt er entschieden. Ich erwähne nicht, dass beides nichts für mich ist – und deute seine Bemühungen einfach dahingehend, dass er mich gern hat und vielleicht irrigerweise meint, er müsse mir fürdie Betreuung etwas zurückgeben. Gestern hat er mit demselben Ehrgeiz das Thema »Telefonnummern
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