Miss Emergency
Eltern ihr geschenkt haben. »Ach«, sagt Jenny, »ich krieg doch dauernd Geschenke.« Absolut keine normale Antwort. »Zeig!«, sage ich. Jenny steht auf, sehr langsam. Sie verschwindet in ihrem Zimmer, Isa und ich wechseln einen irritierten Blick. Wir stehen auf und gehen Jenny nach, beide mit einem seltsamen Gefühl.
Jenny steht vor ihrem Bett und packt einen Karton aus. »T-Shirts«, sagt sie, »und Kleider.« Sie nimmt Klamotten aus dem Karton und legt sie aufs Bett. »Ach, und eine Uhr …« Sie öffnet das Kistchen, legt die schmale, goldene Uhr an. Warum habe ich das Gefühl, dass sie die Sachen gerade zum ersten Mal auspackt? Und dann sehe ich es: Das ist kein Weihnachtsgeschenk-Karton. Sondern ein Postpaket. »Jenny«, frage ich leise, »was hast du zu Weihnachten gemacht?«
Jenny zuckt die Achseln. »Ferngesehen.« Mir schnürt sich die Kehle zu. »Du warst ganz allein?«, fragt Isa erschüttert.
»Bei uns ist das nicht so«, sagt Jenny und kippt das Weihnachtspaket aus. Ich könnte ihre Eltern umbringen.
»Schon gut«, wiegelt Jenny ab, als Isa sie umarmen will. »Ich war am 23. mit meinen Eltern essen.«
»Das ist nicht dasselbe«, sagt Isa leise.
»Was glaubt ihr denn«, fragt Jenny und tätschelt den Weihnachtselch, der mittlerweile neben ihrem Bett steht, »warum ich den ganzen Advent wie bescheuert vorgefeiert habe?!«
Ich fühle mich schrecklich. Man hätte Jenny einladen können. Oder am Weihnachtsabend wenigstens anrufen …
»Guckt mich nicht so an!«, sagt Jenny. »Zankt euch lieber, wer dieses entzückende Wollkleid bekommt!«
Als Jenny das letzte Mal die Klamottengeschenke ihrer Mutter an uns verteilt hat, waren wir Feuer und Flamme. Heute bringen wir das nicht fertig, auch wenn es Jenny vielleicht guttun würde. Ich kann nichts von den Sachen anrühren. Weil Jenny mir aber so vehement eine Kaschmir-Stola hinhält, nehme ich sie schließlich und ziehe sie dem Weihnachtselch über. Und das löst endlich die schreckliche Spannung. Isa und ich helfen dem Elch in alle Klamotten, die nur irgendwie überziehbar sind, bis er aussieht wie gemästet. Jenny sitzt auf dem Bett, futtert den Weihnachtsbraten meiner Mama auf, raucht dazu und sieht zufrieden unserer Elch-Anzugsorgie zu. Ihre Eltern sind am Weihnachtsmorgen in die Alpen gefahren. Spa und Ski, wie jedes Jahr. Jenny war noch nie mit. »Mir fehlt nichts, ehrlich«, sagt Jenny. »Zu Hause ist es doch am schönsten.«
I st es normal, sich so auf die Arbeit zu freuen? Jenny findet das idiotisch, sie ist heute in miserabler Laune und lässt sich beinahe zur S-Bahn schieben. Ich aber kann es kaum erwarten, zurück in die Klinik zu kommen. Die Patienten, die Ärzte, Ruben, Tobias. Tobias.
Vorerst ist an Privatinteressen nicht zu denken. Die Station ist voll. Feiertagsunfälle. Sportverletzungen. Die Liste der OPs scheint endlos, Dr. Gode teilt uns die Assistenzen zu und findet kaum Zeit, uns wieder willkommen zu heißen, Dr. Thiersch ist im Vollstress und stöckelt über den Flur, ohne nach rechts und links zu sehen.
»Tut mir leid«, sagt Dr. Gode am Ende der Besprechung. »Ich habe sie Ihnen wieder zugeteilt …« Ich weiß gar nicht, was er meint. Er drückt mir die Akte in die Hand. Frau Jahn.
Sie sitzt in ihrem Zimmer auf dem Bett, heute Morgen aufgenommen. Sieht mich an, zuckt mit den Schultern. »Und es hat nicht mal was genutzt«, sagt sie leise.
Frau Jahn hat sich nicht geschont. Alle meine Warnungen waren umsonst. Sie hat die Rehamaßnahmen nicht abgeschlossen, sich nicht einen Tag ausgeruht. Bei dem vergeblichen Rettungsversuch für ihre Firma hat sie sich und ihren Körper viel zu schnell viel zu stark belastet. Das MRT ist eindeutig. Die Fixierungsnähte des Meniskus sind gerissen. Es kann sein, dass ein großer Teil entfernt werden muss.
»Ich musste mich entscheiden«, sagt Frau Jahn. »Ich habe allesversucht.« Ich kann nicht antworten, mir fällt absolut nichts ein, was sie trösten könnte.
Erst eine Stunde wieder an der Arbeit und ich fühle mich bleischwer. Ich fahre mit Frau Jahns Proben ins Labor – und stolpere in das nächste Drama. Felix sieht mich heute kaum an, reagiert nicht auf meinen Gruß, so abweisend habe ich ihn noch nie erlebt. Ich bin zu angeschlagen, um fröhlich darüber hinwegzugehen, vielleicht lasse ich auch meinen Frust über Frau Jahns Schicksalsschlag an ihm aus – jedenfalls stelle ich ihn zur Rede, harscher, als er es von mir kennt. »Nicht hier«, sagt er und zieht mich vor die
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