Miss Emergency
es geschehen, dass wir ihr eine Kaffeetasse in die Hand drücken, die Jacke überziehen. Immer noch sagt sie nichts. Eine ganz andere Jenny, erwachsen, allein.
Isa macht sich Sorgen. Und ich fühle mich irgendwie gemein. Denn als wir uns dem Krankenhaus nähern, werden meine Schritte immer schneller. Ich kann es nicht erwarten, wieder bei Tobias zu sein. Schon der Vormittag, den ich überstehen muss, eh ich zu ihm darf, scheint mir endlos. Aber jetzt haben die Patienten Vorrang.
Frau Jahns Blutwerte sind in Ordnung, das EKG ebenfalls, sie wird morgen operiert. Das Vorgespräch, das Dr. Gode und ichmit ihr führen, ist kurz. Der Meniskus wird zu fast 80 Prozent entfernt werden müssen, Frau Jahn bekommt ein Implantat. Sie wirkt abgeklärt, fast desinteressiert. »Tanzen werde ich also nicht mehr«, sagt sie leise, als wir das Zimmer verlassen. Und wie zum Hohn hängt Schwester Jana, gerade als wir auf den Flur treten, ein Plakat am Schwarzen Brett auf: »16. St.-Anna-Ärzteball«.
In der Mittagspause haste ich nach unten. Endlich. Herzklopfen auf dem Flur. Ich komme ungesehen bis zu seinem Büro. Ich könnte überschnappen vor Glück. Gleich! Meine Hand greift nach der Türklinke. Und erstarrt. Drinnen spricht eine Bassstimme.
Oh Mann, Lena, um Himmels willen! Ich kann gerade noch zurückzucken. Beinahe wäre ich in sein Büro gestürmt – und drinnen sitzt der Chef!
Ich stehe auf dem Flur wie auf einem Minenfeld, von beiden Seiten kommen schwatzende Schwestern; die einen schlendern zum Essen, die anderen eilen zu ihren Stationen zurück, ich stehe viel zu nah und wie erstarrt vor einer Tür, vor der ich nichts zu suchen habe. Hastig und mit zitternden Knien verschwinde ich im Damenwaschraum.
Nicht auszudenken, wenn ich in die Chefbesprechung geplatzt wäre. Gerade ich, die NIE eine passende Ausrede parat hat, wenn eine gebraucht wird. Ich hätte so krebsrot und verdattert in der Tür gestanden, dass ich auch ein Transparent vor mir hätte hertragen können. (»Raten Sie mal, wer eine heimliche Beziehung mit dem Oberarzt führt«. Mit einem riesigen Pfeil auf die Trägerin.)
Seit zwischen Tobias und mir alles so klar scheint, seit ich das Gefühl habe, endlich an seiner Seite angekommen zu sein, habe ich keinen Gedanken mehr an das eigentliche Problem unserer Beziehung verschwendet. Ich bin auf sein Büro zugestürmt wie die sprichwörtliche Elefantenherde. Eine chefärztliche Sprechpause und ich hätte ahnungslos und liebesverrückt die Tür aufgerissen. Ich habe gerade noch mal Glück gehabt. Und brauche zehn Minuten, bis meine Knie wieder mitspielen.
Als ich auf die Chirurgie zurückkomme, hat der kleine Teufel in mir schon wieder die Oberhand. »Ist doch alles gut gegangen«, flüstert er und bringt mich dazu, einen Moment vor der Ankündigung des Ärzteballs stehen zu bleiben. Da gehen sicher alle hin. Und vielleicht … Ich habe noch nie mit Tobias getanzt. Ich könnte mir vorstellen, dass er von solchen Veranstaltungen nicht viel hält. »Aber was für ein Spaß wäre das?!«, raunt der Kopfteufel. »Zwischen all den Leuten, die nichts von euch ahnen …« Und weil ich ja heute offenbar das Glück gepachtet habe, beschließe ich, bei Tobias heute Abend ein bisschen zu betteln.
Den Nachmittag über versuche ich, mein mittägliches Glück zurückzuzahlen. Ich habe ein Auge auf Jenny, die teilnahmslos über die Station schleicht, und korrigiere unauffällig die Aufgaben, die sie nur halbherzig erledigt hat. Sie merkt es nicht, das ist gut so. Doch nicht allen entgeht, dass Jenny momentan nicht richtig funktioniert. Dr. Gode erwischt mich ausgerechnet, als ich Jennys Bericht überarbeite.
»Was ist passiert?«, fragt er. »Ihre Freundin ist heute noch niemandem auf den Schlips getreten und hat nicht einmal gelacht.«
Er sieht mich an, mitfühlend. Wirkt nett, offen, vertrauenswürdig. Doch ich weiß, was Jenny von der Einweihung Vorgesetzter in private Schwierigkeiten hält: Gar nichts! (Aber wenn ich jetzt »gefeiert« sage, weckt das vielleicht unangenehme Erinnerungen an eine gewisse Diskussion über Charakterfestigkeit. Und »krank« ist auch schlecht, immerhin arbeitet sie, das wäre ja vollends verantwortungslos.) »Schlechter Tag«, sage ich also nur knapp.
»Geben Sie mir Bescheid, wenn ich irgendwas tun kann«, lächelt Dr. Gode. Schade. Aber Jennys Liebeskummer könnte wohl nicht mal der Stations-Sonnyboy lindern.
Am Abend lasse ich Jenny in Isas Obhut nach Hause gehen und verspreche,
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