Miss Emergency
bin nur idiotisch glücklich, als Tobias und ich gemeinsam aus der Klinik schleichen. Wir müssen kichern wie die Teenager, weil direkt hinter uns der Chefarzt aus der Klinik stiefelt, gerade als wir die Autotüren geschlossen haben. Wir fahren durch die Stadt, Tobias schaltet das Radio ein. Pink Floyd. Ich muss an eine weit zurückliegende Autofahrt denken. An: »Wenn wir die Nacht durchfahren, sind wir zum Sonnenaufgang in Polen.« Jetzt ist es mir ganz egal, wo wir hinfahren. Wir sind zusammen, endlich ist alles klar und einfach. Wie schön, dass sie ausgerechnet jetzt noch einmal dieses Lied spielen. Unser Lied. Aber es ist kein Zufall. Tobias lächelt. »Ich hab mir die CD gekauft.«
Wir kochen und ich weiß, wo in seiner aufgeräumten Küche die Messer und die Gewürze zu finden sind. Er sagt: »Ich schätze, du willst am Feuer essen«, zündet den Kamin an und ich ziehe Tischdecke und Kerzen vom Tisch auf den Fußboden und fühle mich kein bisschen unsicher. Wir picknicken auf dem Boden vor dem Kamin, draußen wird es dunkel. Mein perfekter Abend.
Natürlich kommt die Ernsthaftigkeit doch noch. Ich kann weder Jenny noch Frau Jahn lange aus meinem Kopf aussperren. Tobias hält mich fest, hört mir zu. Er mutmaßt, dass Frau Jahn ein Implantat bekommen wird. Und versteht, wie ich mich fühle. »Du hast getan, was du konntest«, sagt er leise. »Wenn du deine Patienten entlassen hast, kannst du sie nicht mehr schützen. Nur hoffen, dass du das Beste für sie tun konntest. Und dass SIE jetzt tun, was du ihnen geraten hast … Es ist schlimm genug, dass man manchmal nicht mehr helfen kann. Aber das wirklich Unerträgliche ist, dass, selbst wenn man alles richtig gemacht hat, manche Patienten nach Hause gehen und sich umbringen.« Er schweigt einen Moment, dann sieht er weg, hinaus ins Dunkle. »Ich habe eine Patientin verloren, weil ich ihr nicht deutlich genug klargemacht habe, was passiert, wenn sie nicht auf mich hört. Noch jünger als du, ein richtiges Mädchen. Drogensüchtig. Ich habe sie in eine Therapie weitergeschickt. Nach einer Woche ist sie da abgehauen. Ich habe es aus der Zeitung erfahren. Und konnte fast einen Monat keinen meiner Patienten als Menschen betrachten.«
Wir sind still. Wie soll ich ihn trösten?
»Ich wünsche mir so, dass dir solche Erfahrungen erspart bleiben …«, sagt er.
Wir halten uns fest. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, seine Einsamkeit durchdringen zu können.
Irgendwann steht er auf, zieht mich hoch. »Du musst zu Jenny fahren«, sagt er.
Es tut mir leid, ihn jetzt verlassen zu müssen. Aber er hat recht. Seit zwei Stunden schon fühle ich mich zerrissen. »Wir sehen uns morgen«, flüstert er.
Vor meinem Haus ziehe ich seine CD aus dem Autoradio, um mich wenigstens bei ihm zu fühlen. »Soll ich mitkommen?«, fragt er. Zum ersten Mal. Doch ich weiß, dass er es für mich sagt. »Danke«, entgegne ich. »Aber das wäre vielleicht ein bisschen viel für sie. Wir sehen uns morgen.«
»Ich kann es kaum erwarten«, lächelt er.
Isa ist zu Hause, sitzt an Jennys Bett. Sie hat ihr all unsere Kopfkissengebracht, Jenny thront auf einem Kissenberg und raucht im Bett – und dass Isa nicht einmal dagegen etwas sagt, zeigt mir, wie schlecht es um Jenny steht.
Ich lotse Isa in den Flur und entschuldige mich, dass ich so lange aus war. »Du kannst zu Tom fahren, ich kümmere mich jetzt um sie«, flüstere ich. Als hätten wir eine Kranke zu versorgen. Doch Isa schüttelt den Kopf. »Ich bleibe hier«, sagt sie entschieden, mehr nicht. Früher wollte sie jede freie Minute bei ihm sein. Ist das jetzt Treue-Freundinnen-Loyalität – oder stimmt zwischen Tom und Isa auch gerade irgendwas nicht?
Im Moment aber braucht Jenny unsere ganze Aufmerksamkeit. Sie spricht nicht, raucht kraftlos, kommuniziert nur durch Gesten, müdes Kopfschütteln. Sie zeigt matt auf die Heizung, die aufgedreht, die Vorhänge, die zugezogen werden sollen, und auf die CD in meiner Hand. Ich lege das Lied ein. Und wir sitzen schweigend und hören uns den Pink-Floyd-Song immer wieder von vorn an.
Jetzt ist es nicht mehr mein Lied, meine Tobias-Erinnerung. Es wird für alle Zeiten mit Jennys sprachloser Traurigkeit in einem zu warmen, verrauchten Zimmer verbunden sein. Aber wenn dies das Einzige ist, was ich ihr jetzt geben kann, tut es mir nicht leid. Tobias und ich werden ein neues Lied finden.
Am nächsten Morgen fällt es uns schwer, Jenny zur Arbeit fertig zu machen. Wie eine Kranke lässt sie
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