Miss Emergency
Fahrstuhl gerade keine Minute still. Ich werde immer langsamer. Aber niemand kommt.
Vielleicht hat er geahnt, dass ich vor seiner Tür stehe. Er öffnet, bevor ich mich dazu entschließen kann, zu klopfen. Wir stehen uns gegenüber – und alles kommt zurück. Drei Tage sind einfach nicht genug Abstand. Ich kann nur hoffen, dass eine Woche besser hilft.
»Ich fahre jetzt«, sage ich. »Frohe Weihnachten.« Er nickt, sagt nichts. Doch dann geht er zu seinem Schreibtisch und holt ein Päckchen aus seiner Tasche. »Ich habe gehofft, dich noch zu sehen«, sagt er. Sonst nichts. Ich stehe da mit dem kleinen Paket in der Hand. Er sieht mich an. »Bis bald …« Er lächelt leicht.
»Bis bald«, sage auch ich. Und dann gehe ich, ganz schnell.
Tom kommt, um uns zum Bahnhof zu fahren. Er spricht wenig, wirkt unzufrieden. Doch es liegt wohl nicht nur daran, dass Isa für eine Woche zu ihren Eltern fährt. Die beiden sitzen vorn und reden leise und ich merke, dass auch Jenny neben mir auf der Rückbank die Ohren spitzt. »Nichts?«, fragt Isa leise. Tom schüttelt den Kopf. »Keine Berufserfahrung.« Jenny sieht mich an, zieht ein besorgtes Gesicht. Offenbar ist mal wieder ein Bewerbungsgespräch schiefgelaufen. Isa nimmt Toms Hand, Schweigen.
Auf dem Bahnsteig verabschieden wir uns, ich umarme meine Freunde, auf einmal ganz gerührt. Isas Zug fährt in 15 Minuten. Jenny bleibt in Berlin, ich wünsche ihr herrliche Feiertage. Sie lacht: »Meine beiden Jungs werden es mir schon schön machen!« Unverbesserlich!
Ich habe Jenny kurz meine Tasche übergeben, um mich von Isa zu verabschieden, das Päckchen von Tobias liegt obenauf. »Stopp, stopp, stopp«, schreit Jenny, als ich ihr die Tasche wieder abnehme. »Das wolltest du uns doch nicht vorenthalten!«
Eigentlich wollte ich das Päckchen im Zug aufmachen, allein. Aber selbst Isa zieht neugierig-bittend an meiner Jacke und weil ich auch keine Hemmungen hatte, den beiden dauernd mit meinem Tobias-Gefühlschaos auf die Nerven zu gehen, fühle ichmich schäbig, wenn ich sie jetzt nicht einbeziehe. Ich öffne das Papier und ein altes Buch kommt zum Vorschein. »Illustrierte Medizinische Heilkunde«, ein Medizinbuch aus den Zwanzigerjahren. Ich drehe es in den Händen. Hm.
»Du bist ja wohl davon nicht beeindruckt«, schnaubt Jenny. »Ein absolut einfallsloser Klassiker! Meine Geschenke sind viel besser!« Bevor ich mir eine Meinung zu Tobias’ Weihnachtsgeschenk bilden kann, hat sie schon ihre Tasche ausgepackt und Isa und mir große bunte Päckchen überreicht. »Aber erst zu Hause aufmachen!«, warnt sie. Dann geht es an die allerletzte Rundum-Umarmung und ich schaffe es gerade noch, in den Zug zu springen, bevor die Türen geschlossen werden.
Puterrot stehe ich hinter der Zugtür. Tom und Isa sind schon an der Treppe, Isas Zug fährt auch bald. Nur Jenny steht noch auf dem Bahnsteig und winkt. Wie wird es sein, jetzt in die leere Wohnung zurückzugehen? Auf einmal überkommt mich ein seltsames Gefühl. Hoffentlich macht sie keine Dummheiten!
Im Zug sehe ich mir das Medizinbuch von Tobias genauer an. Altmodische, hochtrabende Bezeichnungen für Krankheiten, über die wir heute fast alles besser wissen. Dazwischen seltsame Zeichnungen; die Skizzen vom menschlichen Gehirn sind geradezu komisch absurd. Auf der letzten Seite etwas Handgeschriebenes. Es sieht aus wie eine Stichpunktliste. Tobias’ Handschrift.
»Ich war verheiratet, es war eine schöne Zeit, aber trotzdem ein Fehler. Scheidung mit Extras. Ich hätte gern einen Hund, ich hatte als Kind einen, jetzt habe ich keine Zeit mehr dafür. Ich hatte eine Großmutter, die unbedingt Ärztin werden wollte, es aber nie geschafft hat. Das Buch stammt aus ihrem Nachlass. Ich habe immer furchtbar gerne die Bilder angesehen, seit ich zehn war.«
Ich lese den knappen Text immer wieder. Bis Hamburg. Und denke an Tobias, der in seiner Bürotür stand und mir nachsah, als ich ging. Und von dem ich in den letzten fünf Minuten mehr erfahren habe als in den vergangenen zwei Monaten.
Was tut er jetzt? Kann ich ihn schon anrufen? Wann kann ich ihn wiedersehen? Ich hasse Abschiede.
Z u Hause ist es einfach wunderbar. In Lübeck hat sich nichts verändert. Hier ändert sich nie etwas, früher fand ich das manchmal grässlich, heute macht es mich glücklich. Meine Eltern holen mich vom Bahnhof ab, fahren mich durch die Stadt und ich bin augenblicklich wieder das kleine Mädchen. Na klar wollen alle alles wissen, meine Eltern,
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