Miss Lily verliert ihr Herz
gewissenhaft über die Londoner Treffen der christlichen Reformbewegung und nahm Lady Dayle zu den interessantesten Veranstaltungen mit.
An diesem Abend aber – das hatten die beiden beschlossen – sollte Lily zum ersten Mal an einer musikalischen Soiree teilnehmen, an einem gesellschaftlichen Ereignis, von dem in London schon seit Tagen geredet wurde.
Viele angesehene Mitglieder der guten Gesellschaft gehörten zu den geladenen Gästen. Und tatsächlich hatte Lily gleich zu Beginn des Abends einige interessante Bekanntschaften gemacht. Doch im Moment war die Musik wichtiger für sie als alles andere. Sie hatte vergessen, dass sie nicht allein im Raum war. Gebannt lauschte sie dem Quartett, das ein melancholisches Stück vortrug. Die Violinen klagten, und die dunkleren Töne von Bratsche und Violoncello unterstrichen die traurige Stimmung noch. Als die Melodie schließlich verklang, standen Tränen in Lilys Augen.
„Mein liebes Kind“, murmelte Lady Dayle und drückte ihr ein Taschentuch in die Hand.
Lily lächelte und tupfte sich die Tränen ab. Es war ihr ein wenig unangenehm, dass sie mit ihrem Gefühlsausbruch die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zog. Doch ihrer Empfindungen schämte sie sich nicht. Die Musik hatte sie zutiefst berührt. „Nie habe ich etwas Schöneres gehört“, gestand sie.
„Ein beeindruckendes Stück“, stimmte die Viscountess zu, „und hervorragend gespielt!“
„Werden die Musiker noch einmal auftreten?“
„Ja, nach der Pause. Jetzt allerdings möchte Lady Montague ihren Gästen erst einmal Gelegenheit geben, sich eine Erfrischung zu holen und ein wenig miteinander zu plaudern.“
Gemeinsam begaben sie sich in das Zimmer, in dem die Getränke bereitstanden. „Die Hausherrin hat mich gefragt, ob Sie ein Instrument spielen, Lily“, berichtete Lady Dayle. „Sie sieht es nämlich gern, wenn ihre Gäste selbst ein wenig zur Gestaltung des Abends beitragen.“
„Ich spiele Klavier“, gab Lily zurück. „Aber es ist lange her, dass ich zum letzten Mal etwas anderes als Kirchenlieder vorgetragen habe. Ich glaube kaum, dass Hymnen den Anwesenden gefallen würden.“
„Da täuschen Sie sich! Heute sind die unterschiedlichsten Menschen hier versammelt, und viele von ihnen – da bin ich mir ganz sicher – habe eine Vorliebe für Kirchenmusik. Sehen Sie den Gentleman dort drüber, der sich mit Lady Jersey unterhält? Das ist Bischof Myers. Er hat sich sehr für den Ausbau des Waisenhauses an der Themse engagiert. Vermutlich hat Lady Montague ihn dadurch kennengelernt. Sie selbst hat ebenfalls viel für die armen elternlosen Kinder getan.“
„Ja, wenn man sich gemeinsam für eine gute Sache einsetzt, ist es leicht, Freundschaften zu schließen“, meinte Lily und ließ sich von einem Diener ein Glas Ratafia geben.
Lady Dayle hatte sich für Wein entschieden. Sie trank einen Schluck, nickte einer Bekannten freundlich zu und sagte: „Ich denke … Oh!“ Sie unterbrach sich und schaute einen Moment lang sehr verwirrt drein. „Lily“, bat sie dann leise, „ich habe eine Theorie, die ich gern überprüfen möchte. Sagen Sie, ist mein Sohn Jack gerade gekommen?“
Lily hatte Mr. Alden nicht mehr gesehen seit jenem Tag, da sie ihm unter so dramatischen Umständen zum ersten Mal begegnet war und ihn in Dayle House noch einmal getroffen hatte. In Gedanken allerdings hatte sie sich oft mit ihm beschäftigt. Immer wieder hatte sie sich sein attraktives Äußeres, seine melancholischen Augen und sein hinreißendes Lächeln in Erinnerung gerufen. Manchmal hatte sie sich sogar dabei ertappt, wie sie sich völlig absurden Tagträumen hingab.
Sie hatte sich ihm so nah gefühlt, als er ihren Arm berührt und sie verständnisvoll angeschaut hatte. Ihr Herz hatte plötzlich schneller geschlagen, und die Stimme des Gentle mans hatte ihr heiße Schauer über den Rücken gejagt. Nie zuvor hatte ihr Körper so seltsame Reaktionen gezeigt. Und ihre Menschenkenntnis musste sie damals auch im Stich gelassen haben. Warum, um Himmels willen, hätte sie sonst das Gefühl gehabt, in Jack Alden einen Seelenverwandten zu finden? Nach allem, was seine Mutter ihr über ihn erzählt hatte – leider war das nicht sehr viel gewesen –, lebte er wie ein Einsiedler und teilte keine ihrer Interessen.
Natürlich würde ein Einsiedler kaum zu einer musikalischen Soiree kommen …
Unauffällig trat Lily einen Schritt zur Seite, sodass sie an Lady Dayle vorbei zur Tür schauen konnte.
Ihr Herz
Weitere Kostenlose Bücher