Miss Lily verliert ihr Herz
ließ er den Blick über Lilys Gesicht wandern.
Ihre Haut begann zu kribbeln, so als habe er sie körperlich berührt.
„Und nun“, erklärte er – seine Miene war jetzt gar nicht mehr finster, und um seine Lippen spielte wieder dieses spezielle Lächeln –, „habe ich sogar eine Gesprächspartnerin gefunden, die nicht nur gut informiert, sondern auch wunderschön ist.“
„Danke.“ Plötzlich war sie sich seiner Nähe sehr bewusst. Sie musste sich Mühe geben, sich ihre Verwirrung darüber nicht anmerken zu lassen. „Was möchten Sie denn wissen? Und sind Sie sicher, dass Sie schriftliche Informationen nicht vorziehen würden? Ihre Mutter erwähnte, dass Sie Ihre Zeit am liebsten mit Lesen verbringen.“
Er hob die Augenbrauen.
„Ihr Spezialgebiet sind die antiken Kulturen, nicht wahr? Nun, ich verstehe, dass Sie sich gern mit dem beschäftigen, was seit langem vergangen ist. Lebende Menschen sind oft so“, sie machte eine effektvolle kleine Pause, „übertrieben gefühlvoll.“
Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich ab und zu ganz gern unter Menschen wage. Um nichts in der Welt hätte ich es versäumen wollen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Beecham.“
„Dann kann ich nur hoffen, dass Sie dabei Ihren Arm nicht überanstrengt haben.“ Kurz schaute sie zu seinem Verband hin.
„Keine Sorge, in zwei oder drei Wochen wird die Wunde vollkommen verheilt sein.“
„Als ich erfuhr, wie sehr Sie Bücher lieben, habe ich mich gefragt, ob Sie sich die Verletzung zugezogen haben, als Sie von einer Bibliotheksleiter fielen.“
Noch während sie sprach, verfinsterte sein Gesicht sich wieder. „Ich bin angeschossen worden, als ich einen Kunstdiebstahl zu verhindern suchte“, sagte er kühl.
„Wie aufregend!“ Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. „Wirklich, das macht mir Hoffnung.“
„Hoffnung?“
„Ja, wenn es einem Bücherwurm gelingt, in ein Abenteuer verwickelt zu werden, dann besteht wohl auch Hoffnung für ein Mädchen vom Lande.“
Es gelang ihm, eine undurchdringliche Miene zu bewahren. „Sie sehnen sich nach Abenteuern, Miss Beecham?“
„Nun, ich denke nicht an allzu aufregende oder gar gefährliche Abenteuer.“
„Sie träumen davon zu reisen? Oder davon eine Menge Verehrer zu haben? Oder von einer köstlichen Leckerei?“ Er winkte einen Diener herbei, der ein Tablett mit appetitlich duftendem Kleingebäck trug.
Himmel, seit Monaten hatte sie keine Unterhaltung mehr so genossen wie diese! Das Gespräch mit Mr. Alden war aufregend. Und ein wenig zweideutig …
Die Obstteilchen sahen wirklich lecker aus! Lily wählte eines und kostete, ehe sie sagte: „Ich würde gern reisen, ja. Aber man hat mir klargemacht, dass ich dazu zu jung bin. Also muss ich mich wohl gedulden, bis ich älter und“, sie nahm einen weiteren Bissen, „kräftiger bin.“ Sie kaute genüsslich und seufzte schließlich tief auf. „Diese Orangencreme ist himmlisch!“
Dann bemerkte sie, wie hungrig Mr. Alden sie plötzlich musterte. Seine braun-grün-goldenen Augen verrieten ihn. Ha! Er konnte den Blick kaum von ihrem Ausschnitt wenden, obwohl dieser sehr dezent war.
„Was werden Sie als Ersatz für die verschobene Reise wählen, Miss Beecham?“, fragte Jack mit seltsam heiserer Stimme.
„Ich werde am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und die Chance nutzen, interessante, liebenswerte Menschen kennenzulernen und gute Gespräche zu führen.“
„Dann möchten Sie unser Gespräch noch ein bisschen fortsetzen? Wir könnten uns dabei Mrs. Montagues Gemäldegalerie anschauen.“
„Danke, Mr. Alden. Aber“, sie übersah gekonnt, dass er ihr den Arm reichen wollte, „ich habe gerade einen Freund von der Bibelgesellschaft entdeckt, mit dem ich unbedingt sprechen muss.“
Verblüfft schaute Jack ihr nach. Die Unterhaltung mit ihr war völlig anders verlaufen, als er es sich ausgemalt hatte. Dabei hatte er zuvor seine Strategie sorgfältig geplant. Verflixt, dieses Mädchen hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht! Das passierte ihm sonst nie. Nun, Miss Beecham war wirklich eine außergewöhnliche junge Dame. Wie sonst hätte es ihr gelingen können, so viele widersprüchliche Gefühle in ihm zu wecken?
Er runzelte die Stirn. Lily war klug und schlagfertig. Sie war humorvoll und hübsch. Und es war völlig unvorhersehbar, was sie sagen oder tun würde.
Kein Wunder, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Seit jener Nacht im Museum fühlte
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