Miss Lily verliert ihr Herz
er sich sowieso schlecht. Er schlief kaum, hatte keinen Appetit und konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Nach wie vor wurde er von Albträumen heimgesucht. Kapitän Batiste spielte natürlich die wichtigste Rolle in ihnen. Aber immer häufiger durchlebte er auch Szenen seiner Kindheit. Es war, als habe sein Vater, dessen Grausamkeiten ihm damals wenig hatten anhaben könnten, sich aus dem Grab erhoben, um ihn zu quälen. Eine unerträgliche Situation!
Wenn er bei seiner Suche nach Batiste wenigstens Fortschritte verzeichnen könnte! Als Wissenschaftler führte er eine breit gefächerte Korrespondenz. Inzwischen hatte er seine Kontakte überall in der Welt genutzt, um Informationen über den Kapitän einzuholen. Vergeblich. Seine letzte Hoffnung war Matthew Beecham. Den allerdings würde er nur mit Lily Beechams Hilfe finden können. Also musste er die Bekanntschaft mit der jungen Dame vertiefen.
Unwillkürlich lächelte Jack. Miss Beecham hatte sich verändert. Ihre Kleidung war eleganter, ihre Frisur modischer. Und auf ihrem Nasenrücken gab es ein paar neue Sommersprossen. Bei der Auswahl des blauen Kleides hatte ihr vermutlich seine Mutter zur Seite gestanden. Es war unauffällig und stand doch in krassem Gegensatz zu dem unförmigen braunen Sack, den sie bei ihrem ersten Zusammentreffen getragen hatte. Der mit Stickereien verzierte Ausschnitt zog unweigerlich den Blick auf den hübschen Busen. Und der weiche Stoff umschmeichelte die schmale Taille ebenso wie die weiblich gerundeten Hüften.
Er schaute sich um und stellte fest, dass er nicht der Einzige war, dem die junge Dame gefiel. Sie hatte kurz mit ihrem Bekannten von der Bibelgesellschaft gesprochen und ging nun von Gruppe zu Gruppe, plauderte unbeschwert und lachte hin und wieder herzhaft. Alle schienen von ihr hingerissen zu sein. Offenbar besaß sie das Talent, Menschen für sich zu gewinnen.
Mit Minerva Dawson schien sie sich bereits angefreundet zu haben. Gerade steckten die beiden die Köpfe zusammen. Dann setzten sie ihre Runde durch den Raum gemeinsam fort. Minervas Mutter schaute ihnen lächelnd nach. Die Dame an ihrer Seite allerdings schien Lily Beecham nicht zu mögen.
Einen Grund dafür konnte Jack, der Lily weiterhin unauffällig beobachtete, allerdings nicht erkennen. Sie war freundlich zu jedermann und beging offensichtlich keinen einzigen Fauxpas.
Als Mrs. Montague wenig später die Gäste bat, ihre Plätze wieder einzunehmen, tat Miss Beecham allerdings etwas völlig Unerwartetes: Statt in den Musikraum zurückzukehren, drängte sie sich gegen den Strom zu der Tür, die in den Flur führte.
Ah, sie begrüßte ein älteres Ehepaar, das offensichtlich gerade erst eingetroffen war. Sie strahlte vor Freude über das Wiedersehen. Doch dann wurde ihre Miene plötzlich ernst. Erschrocken hob sie die Hände zum Mund. Sie schien schockiert und traurig zu sein.
In diesem Moment entdeckte die Hausherrin die verspäteten Gäste und eilte zu ihnen, um sie zu begrüßen. Lily trat beiseite und verschwand dann unauffällig im Flur.
Jacks Herz schlug plötzlich schneller. Miss Beecham war offensichtlich beunruhigt und wollte ein wenig allein sein. Das war seine Chance! Die Möglichkeit, Lily unter vier Augen zu sprechen, durfte er sich nicht entgehen lassen.
Die unmelodischen Klänge von Instrumenten, die gestimmt wurden, folgten ihm, als er in den Flur trat. Miss Beecham konnte er nirgends entdecken, doch mehrere weibliche Gäste verließen gerade den Ruheraum für Damen. Jack wusste instinktiv, dass Lily sich nicht dorthin zurückgezogen hatte. Entschlossen schritt er den Flur entlang.
Er fand sie schließlich in der Bibliothek. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und ihre Gestalt war kaum mehr als ein Schatten am Fenster.
„Miss Beecham, ist alles in Ordnung?“
Zunächst rührte sie sich nicht. Doch dann schaute sie ihn über die Schulter hinweg kurz an.
Er war inzwischen näher getreten und konnte wieder diesen Schmerz in ihren Augen erkennen, der ihm schon bei ihrer ersten Begegnung so nahegegangen war. Bei Jupiter, was war geschehen? Eben war sie noch so unbeschwert und fröhlich gewesen!
„Miss Beecham?“, wiederholte er.
„Ich …“ Sie holte tief Luft. „Danke, mir geht es gut.“
Verwundert stellte er fest, dass er das Bedürfnis verspürte, sie zu trösten. Verflixt, warum weckte sie stets seinen Beschützerinstinkt? Es drängte ihn doch sonst nie, in die Rolle des edlen Ritters zu schlüpfen! Nun, er würde
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