Miss Lily verliert ihr Herz
Verkleidung stets bereit.
Der Wirt setzte den Ale-Krug mit so viel Schwung vor Jack ab, dass etwas von der dunklen Flüssigkeit über den Rand schwappte. „Wenn Sie die ganze Nacht hier sitz’n woll’n, müss’n Se schon ’was mehr trink’n“, erklärte der Mann, der einen nicht zu übersehenden Bierbauch hatte.
„Ich gebe eine Lokalrunde, wenn der Kerl, über den wir gesprochen haben, endlich auftaucht“, entgegnete Jack, der seine Gelassenheit anscheinend zurückgewonnen hatte.
„Un’ wenn er nich’ kommt? Vielleicht sitzt er in ’ner andern Kneipe. Es gibt ja genug.“ Mit dem Zipfel seiner schmierigen Schürze wischte der Wirt den Tisch ab.
„Ich werde warten“, erklärte Jack und schob dem Mann unauffällig eine Münze hin.
Der ließ sie geschickt in seiner Tasche verschwinden und bahnte sich dann durch die Menge einen Weg zurück zur Theke.
Jack betrachtete missmutig sein Ale. Das Bier war, wie er wusste, nicht gerade gut, und der Krug wurde vermutlich nur sehr selten gespült. Überhaupt war das Water Horse eine der schmutzigsten Kneipen von London. Doch hier verkehrten genau die Männer, die mit einem Verbrecher wie Batiste zusammenarbeiten würden. Ja, wahrscheinlich war der Kapitän sogar selbst schon hier gewesen. Jedenfalls war der Wirt der Einzige, der überhaupt eine Reaktion gezeigt hatte, als Jack ihn nach Batiste fragte. Alle anderen, mit denen er gesprochen hatte – Huren, Hafenarbeiter, Seemänner und Kriminelle –, hatten bei der Erwähnung des Kapitäns nur die Schultern gezuckt.
Natürlich wusste Jack, dass die Chancen gering waren, im Water Horse zuverlässige Informationen zu erhalten. Aber im Moment war die Kneipe sein einziger Anhaltspunkt. Es sei denn, er zöge es vor, seine Tage mit Lily Beecham zu verbringen, die vielleicht irgendwann von ihrem Cousin hören würde. Nun, momentan war ihm eine schmierige Gaststube bedeutend lieber als Miss Beechams Gesellschaft.
Er trank einen Schluck Ale und zog eine Grimasse. Scheußlich! Niemals würde er genug von diesem Gebräu trinken können, um Lilys Bild aus seinem Kopf zu verbannen. Ständig musste er an sie denken, an ihre wunderschönen Augen, ihr Lächeln, ihre weiblichen Rundungen, ihre melodische Stimme. Wenn er wenigstens vergessen könnte, was sich in Bradingtons Garten zugetragen hatte! Dieser Kuss hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.
Die Erinnerung genügte, um erneut das wilde Verlangen in ihm aufflackern zu lassen, das Lily in ihm geweckt hatte. Er kämpfte es nieder. Denn eines stand fest: Träume und zärtliche oder leidenschaftliche Gefühle konnte er sich im Water Horse nicht leisten. Hier musste er sich auf das konzentrieren, was um ihn her vorging, sonst würde er die Kneipe womöglich nicht lebendig verlassen.
Mit jeder weiteren Stunde stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er sich in Gefahr brachte. Jack beobachtete die abgerissenen Gestalten die ein und aus gingen, und die besser gekleideten Männer, die irgendwelche gewiss nicht legalen Geschäfte in der Kneipe tätigten. Ständig änderte sich das Publikum. Nur in der Nähe der Tür hatten sich zwei Kerle niedergelassen, die sich ebenso wenig von der Stelle rührten wie er selbst. Einer war ein Muskelprotz, ein wahrer Riese, der eine Matrosenkappe auf dem Kopf trug, der andere ein drahtiges Männchen mit wirrem blondem Haar. Die beiden sprachen nicht miteinander. Aber sie waren offensichtlich nicht gekommen, um sich zu betrinken.
Endlich – der Morgen würde bald grauen – leerte die Kneipe sich. Jack musterte noch einmal das ungleiche Paar bei der Tür und beschloss aufzubrechen. Die zwei ließen ihn vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Vielleicht war sein Misstrauen ja unberechtigt gewesen …
Er trat auf die Straße hinaus und hielt einen Moment lang den Atem an. Im Water Horse hatte es nach Alkohol, Rauch und Schweiß gestunken. Draußen nahm man den unangenehmen Geruch des Flusses wahr. Das flackernde Licht einer über dem Eingang der Kneipe aufgehängten Laterne vermochte kaum, den dichten Nebel zu durchdringen. Jack brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Dann ging er, sorgfältig auf jedes Geräusch achtend, von der Themse fort in Richtung der besseren Viertel.
Es dauerte eine Weile, bis er hinter sich auf dem Kopfsteinpflaster das Geräusch von Schritten zu hören glaubte. Unwillkürlich trat er zur Seite und duckte sich in den Eingang eines Geschäfts, das sich auf den Verkauf von Kerzen spezialisiert
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