Miss Lily verliert ihr Herz
ich gern in Sack und Asche gekleidet vor Ihnen auf die Knie sinken und um Vergebung flehen. In der Bibliothek wäre das durchaus möglich.“
„Ach, so weit brauchen wir wohl kaum zu gehen.“ Sie hatte ihre gute Laune zurückgewonnen und gestattete ihm, ihr den Arm zu reichen und mit ihr in die Eingangshalle zu gehen. Auch dort hielten sich Gäste auf, unter ihnen eine dicke Dame, eine Witwe vermutlich, die Lily ungeniert anstarrte und dann ihre Begleiterin fragte: „Wer ist das?“
„Ach“, gab diese zurück, ohne ihre Stimme zu senken, „nur eine von den vielen Frömmlern, die heute hier sind.“ Sie stieß ein boshaftes Lachen aus. „Sie kennen doch den Spruch vom Wolf im Schafspelz? Hier können Sie eine Reformerin im Debütantinnenkleid bewundern.“
Jack versteifte sich. Es war klar, dass er und Lily die Beleidigung hatten hören sollen. Doch Lily ging einfach weiter, so als sei nichts geschehen. Erst als sie in einen Flur eingebogen waren, meinte sie: „Sie brauchen mich gar nicht so anzuschauen.“
„Wie schaue ich Sie denn an?“
„So als wollten Sie mir sagen: Ich habe Sie gewarnt: Mitglieder der guten Gesellschaft und Angehörige der Reformbewegung vertragen sich nicht miteinander. Übrigens sind auch andere dieser Ansicht. Minervas Tante zum Beispiel. Aber mir macht es nichts aus, verhöhnt zu werden, wenn es uns letztendlich gelingt, mit diesem Ball den Waisenkindern zu helfen.“
Jetzt hatten sie die Bibliothek erreicht. Die Tür stand weit offen, und Jack bedeutete Lily, dass sie zuerst eintreten solle. Er selbst kannte vermutlich jede Bibliothek in Mayfair, denn wenn die Umstände ihn gezwungen hatten, an einer Gesellschaft teilzunehmen, hatte er sich stets so bald wie möglich in die Bücherei des Hauses zurückgezogen.
Während Jack den Blick über die langen Reihen ledergebundener Bände wandern ließ, schritt Lily, ohne zu zögern, auf die Glastür zu, die in den Garten führte.
„Dort gibt es wahrscheinlich nicht viel zu sehen“, meinte Jack. „Mrs. Dawson interessiert sich mehr für Mode als für Gartengestaltung.“
„Ich weiß“, entgegnete Lily. „Aber heute Abend kann man tatsächlich die Sterne sehen. Das ist sehr ungewöhnlich in London.“
„Sie sehnen sich nach dem Landleben?“
„Mir fehlen die langen Spaziergänge. Auch würde ich gern wieder einmal einen richtigen Wald sehen.“ Sie starrte weiter in die Nacht hinaus. „Jack, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Bei unserem letzten Treffen habe ich mich nicht sehr nett benommen. Werden Sie mir vergeben?“
„Selbstverständlich. Wenn Sie bereit sind, mir eine Frage zu beantworten …“
Langsam wandte sie sich um. „Nur, wenn Sie mir ebenfalls eine Frage beantworten.“
„Warum nicht?“ Er machte es sich in einem Sessel in der Nähe des Schreibtisches bequem und nahm eine wissenschaftliche Zeitschrift zur Hand.
„Was wollen Sie wissen?“, drängte Lily.
„Nun ja …“
Sein Zögern schien sie zu faszinieren. Sie ging zum Tisch und setzte sich auf die Kante, sodass sie Jack beobachten konnte. Ihm fiel auf, wie zierlich sie war. Ihre Füße baumelten in der Luft. Der Anblick löste ein seltsam zärtliches Gefühl in ihm aus. Und noch etwas anderes. Vorsichtshalber legte er sich die Zeitschrift auf den Schoß.
„Was, um alles in der Welt, haben zwei Krähen, die gemeinsam auf einem Zaunpfosten hocken, mit … mit irgendetwas zu tun?“
„Oh!“
Sie sah bezaubernd aus, wenn ihre Wangen sich sanft röteten!
„Versprechen Sie mir erst, dass Sie mich nicht auslachen.“
„Ich verspreche, mir alle Mühe zu geben.“
„Das muss wohl genügen … Also: Meine Kinderfrau war sehr abergläubisch. Sie kannte Hunderte von Geschichten über Feen, Kobolde, Geister und andere unheimliche Wesen. Ihr Spezialgebiet aber war das Lesen von Vorzeichen.“
„Vorzeichen?“, wiederholte Jack verwirrt.
„Ja, Sie werden doch schon davon gehört haben, dass Scherben Glück bringen? Eine schwarze Katze hingegen kündigt Unglück an.“
„Die alten Etrusker haben an solchen Unsinn geglaubt“, murmelte er. „Ihre Priester haben die Zukunft aus der Leber geopferter Tiere gelesen.“
„Es gibt auch heute noch unzählige Menschen, die an Vorzeichen glauben oder die Zukunft aus den Handlinien lesen.“
„Zigeuner vielleicht. Aber doch nicht eine gebildete junge Dame wie Sie!“ Er sah schockiert aus.
Lily schluckte.
„Außerdem steht solcher Aberglaube im Widerspruch zur christlichen Lehre. Ihrer
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