Miss Lily verliert ihr Herz
ins Musikzimmer. Dort hatte man eine Bühne errichtet, die gerade groß genug war, um den kleinen Sängerinnen Platz zu bieten. Die Kinder nahmen ihren Platz ein, und Lily sagte: „Ihr seht wunderhübsch aus, und mit eurem Gesang werdet ihr alle erfreuen.“
Die ersten Gäste betraten den Raum, und Minerva wandte sich ihnen zu, um bei der Verteilung der Sitze behilflich zu sein.
Ein paar Mädchen traten nervös von einem Fuß auf den anderen.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, meinte Lily lächelnd. „Niemand wird unzufrieden mit euch sein, selbst wenn einmal ein Ton nicht ganz richtig ist. Ich weiß das, weil ich selbst schon oft vor Publikum gespielt habe.“
„Aber das war in der Kirche“, wandte eines der Kinder ein. „Und dies hier …“
„… dies hier ist ein Verlobungsball“, vollendete Lily den Satz. „Trotzdem braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Alle freuen sich darauf, euch singen zu hören.“ Sie warf einen Blick über die Schulter. Inzwischen hatte sich der Raum gefüllt. „Ich verstehe, dass es euch unruhig macht zu beobachten, wie viele Menschen hereinkommen. Vielleicht könnt ihr euch deshalb nicht an euren Text erinnern? Nun, ich versichere euch, sobald die Musik einsetzt, werdet ihr alle wieder genau wissen, was ihr zu tun habt.“
Einige blickten noch immer zweifelnd drein. Doch zum Glück kam Minerva gleich darauf auf die Bühne zurück, und Lily setzte sich ans Klavier.
„Ich möchten Ihnen allen von Herzen dafür danken, dass Sie der Einladung zu meinem Verlobungsball gefolgt sind“, begann die junge Braut. „Meine Mutter hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass Sie das Fest uneingeschränkt genießen sollen. Ich bin die letzte ihrer Töchter, die in den Stand der Ehe tritt. Und sie hat sich geschworen, nie wieder eine derart große Gesellschaft zu geben und derart viel Champagner zu kaufen.“
Die Anwesenden lächelten einander zu, einige lachten gut gelaunt.
Minerva aber wurde jetzt ernst. „Ich möchte Ihnen ebenfalls dafür danken, dass Sie bereit sind, ein ganz besonderes Erlebnis mit mir zu teilen.“ Sie deutete auf die Waisenkinder, die neben und hinter ihr standen, und berichtete von dem Unglück, das ihnen widerfahren war.
Es wurde sehr still im Raum, als sie die Namen der Kinder verlas, die bei dem Brand ihr Leben verloren hatten. Lily bemerkte, dass einige der Damen Tränen in den Augen hatten.
„Sie werden jetzt verstehen, wie glücklich wir uns schätzen können, diese Mädchen heute bei uns begrüßen zu dürfen.“ Sie stellte jede der Waisen vor und wies auf die Verletzungen hin, die sie davongetragen hatten. So – hoffte sie – würde sie auch das Mitgefühl der weniger hilfsbereiten Gäste wecken. Dann fasste sie zusammen, was während der letzten Tage zugunsten der Kinder getan worden war.
„Wie Sie sehen“, schloss sie, „bleibt uns noch viel Arbeit, obwohl wir schon einiges erreicht haben. Die Mädchen hier möchten all jenen danken, die dazu beigetragen haben, ihr Los zu erleichtern. Deshalb werden die Kleinen nun ein paar Lieder für uns singen.“
Lily erhob sich. „Mein Vater“, sagte sie, „war ein großer Musikliebhaber, und ganz besonders mochte er die alten Balladen. Gemeinsam mit den Kindern habe ich einige der Lieder, die er mir beigebracht hat, ausgesucht, um Sie, Ladies und Gentlemen, mit den Melodien zu erfreuen.“ Sie ließ sich auf dem Klavierschemel nieder und begann zu spielen.
Die Mädchen waren mit Begeisterung bei der Sache. Und schon bald übertrug ihre Freude an der Musik sich auf die Zuhörer. Jedes Lied wurde mit lautem Beifall belohnt. Als die Kinder eine besonders traurige Ballade vortrugen, mussten einige der Damen zum Taschentuch greifen und sich die Tränen abtupfen.
Endlich verklang der letzte Ton, und einen Moment lang senkte sich Stille über den Raum. „Wie schön …“, flüsterte jemand. Dann brauste Applaus auf.
Lily stellte sich zu den Mädchen, deren Wangen vor Freude und Stolz gerötet waren. Mit leuchtenden Augen musterte sie das Publikum. Einige der Gäste hatten sich bereits um Mrs. Dawson versammelt, um ihr zu der gelungenen Aufführung zu gratulieren. Andere drängten sich um Minerva und Mrs. Bartleigh, um sich zu erkundigen, wie sie den Waisen helfen konnten. Vor der Bühne warteten mehrere junge Damen darauf, ein paar Worte mit den Kindern zu wechseln. Eine Gruppe von Gentlemen diskutierte lauthals darüber, wie man den Brandschutz in London verbessern könne.
Aber wo war
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