Miss Lonelyhearts
erkannte sie wieder; sie stammten aus seiner Aktenmappe im Büro.
Der Fels blieb ruhig und fest. Obwohl Miss Lonelyhearts nicht zweifelte, dass er jeder Prüfung standhalten würde, war er bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Er begann sich anzuziehen.
Sie gingen nach unten, und alle sechs zwängten sich in ein Taxi. Mary Shrike setzte sich auf seinen Schoß, doch trotz ihrer betrunkenen Zappelei blieb der Felsen unerschütterlich.
Die Party fand in Shrikes Wohnung statt. Jubelgebrüll erhob sich, als Miss Lonelyhearts eintrat und die Menge ihm entgegendrängte. Er stand fest da, und sie schwappten unverrichteter Dinge zurück. Er lächelte. Über ein Dutzend Betrunkene hatte er abgewehrt. Er hatte sie ohne Mühe oder Überlegung abgewehrt. Während er lächelnd dastand, erhob sich eine kleine Welle aus dem allgemeinen Tumult und umspülte Aufmerksamkeit heischend seine Füße. Es war Betty.
«Was ist los mit dir?», fragte sie. «Bist du wieder krank?»
Er gab keine Antwort.
Als alle Platz genommen hatten, traf Shrike die Vorbereitungen für das Spiel. Er verteilte Papier und Bleistifte, führte Miss Lonelyhearts in die Mitte des Raums und begann seinen Sermon.
«Meine Damen und Herren», sagte er und ahmte Stimme und Gestik eines Zirkusansagers nach. «Wir haben heute Abend einen Mann bei uns, den Sie alle kennen und verehren. Miss Lonelyhearts, der mit dem singenden Herzen – ein noch aufgeblähterer Mussolini der Seele.
Er weilt heute Abend unter uns, um Ihnen bei Ihren moralischen und geistlichen Problemen behilflich zu sein, um Sie mit einem Merkspruch zu versehen, einer Sache, für die es sich lohnt, einem absoluten Ankerpunkt und einem Daseinsgrund.
Einige von Ihnen glauben vielleicht, dass Ihnen nicht mehr zu helfen ist. Sie fürchten, dass selbst Miss Lonelyhearts Sie nicht mehr entflammen kann, egal wie heiß seine Fackel auch lodert. Sie fürchten, dass Sie selbst angesichts seiner hellen Flamme nur glimmen und einen üblen Geruch verströmen werden. Seien Sie guten Mutes, denn ich weiß, Sie werden auflodern. Miss Lonelyhearts wird mit Sicherheit den Sieg davontragen.»
Shrike zog den Stoß Briefe hervor und schwenkte ihn über dem Kopf. «Wir gehen systematisch vor», sagte er. «Zuerst beantwortet jeder von Ihnen einen dieser Briefe, so gut er kann, dann diagnostiziert Miss Lonelyhearts aufgrund dieser Antworten Ihre seelischen Leiden. Danach führt er Sie auf den Weg des Heils.»
Shrike mischte sich unter die Gäste und verteilte die Briefe wie ein Zauberkünstler Spielkarten. Er redete ununterbrochen und las aus jedem Brief einen Abschnitt vor, ehe er ihn weitergab.
«Hier ist einer von einer alten Frau, deren Sohn letzte Woche gestorben ist. Sie ist siebzig und verdient sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Bleistiften. Sie hat keine Strümpfe und trägt schwere Stiefel an ihren wunden und blutenden Füßen. Sie hat Triefaugen. Haben Sie Platz für sie in Ihrem Herzen?
Dieser hier ist herrlich. Ein kleiner Junge wünscht sich eine Geige. Das scheint ein einfacher Fall zu sein; man brauchte dem Kerlchen nur eine zu verschaffen. Aber dann stellen Sie fest, dass er den Brief seiner kleinen Schwester diktiert hat. Er ist gelähmt und kann nicht einmal alleine essen. Er besitzt eine Spielzeuggeige, presst sie an seine Brust und ahmt mit dem Mund den Klang des Geigenspiels nach. Wie rührend! Jedoch ist viel aus dieser Parabel zu lernen. Man braucht nur den Jungen ‹Arbeiterklasse› zu nennen und die Geige ‹das Kapital› und so fort … »
Miss Lonelyhearts ertrug alles mit größter Seelenruhe; es kümmerte ihn nicht einmal. Was im Meer vor sich geht, kümmert den Felsen nicht.
Als alle Briefe verteilt waren, reichte Shrike auch Miss Lonelyhearts einen. Der nahm ihn; nachdem er ihn aber eine Weile in der Hand gehalten hatte, ließ er ihn ungelesen zu Boden fallen.
Shrike konnte auch nicht für einen Augenblick still sein. «Sie tauchen ein in eine Welt des Elends und des Leids, bevölkert von Wesen, denen alles fremd ist außer Krankheiten und Polizei. Von jenen geplagt, von dieser gejagt …
Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen, die dumpfen, gemeinen, nagenden, unablässigen Schmerzen in Herz und Hirn. Schmerzen, die nur ein großes geistliches Liniment 46 lindern kann … »
Als Miss Lonelyhearts sah, wie Betty aufstand, um zu gehen, verließ er hinter ihr die Wohnung. Auch sie sollte sehen, was für ein Felsblock er geworden war.
Shrike vermisste ihn erst, als
Weitere Kostenlose Bücher