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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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werden?«
    Etwas an ihrer Stimme erinnerte Holland unweigerlich an Mary Finch. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie ihm solch eine Frage stellte und dabei auf der Suche nach einer Antwort alle am Tisch mit ernster Miene anblickte. Aber wie konnte er an Mary Finch denken, wenn seine Cousine Susannah sich im Raum befand? Er erklärte Charlotte, dass man das Henken für unehrenhafter hielt, und gleichzeitig dachte er, Mary Finch wäre ihm wahrscheinlich ins Wort gefallen und mit einem Kerl aus der Geschichte gekommen, den man von einer Klippe gestoßen oder in Öl gekocht hatte, und zu guter Letzt würde sie ihn fragen, was er wohl davon hielte? »Das erinnert mich an eine seltsame Geschichte, die ich im Fort der Küstenwache gehört habe«, fügte er hinzu. »Da geht es gar nicht um einen Verbrecher, sondern … um die Hand eines Toten.« Dabei lächelte er verschmitzt.
    »Ach du liebe Güte«, hauchte Susannah, während Charlotte rief: »Los, erzähl schon.«
    »Nun«, sagte Holland mit leiser Stimme, »der letzte Fort-Kommandant hieß Thicknesse, Captain Thicknesse, ein seltsamer … äußerst merkwürdiger … Kerl. Er war sehr belesen und gebildet, doch wenn niemand hinschaute, schrieb er Pamphlete und stritt sich mit den Leuten, besonders mit seinem Sohn, Lord Audley. Als Thicknesse das Zeitliche segnete, sah man seine Papiere durch, und, was glaubt ihr, fand man? Er hatte seine … rechte Hand Lord Audley vermacht.«
    »Ach du Schreck«, murmelte Susannah.
    »In seinem Testament stand, man solle ihm nach seinem Tod die rechte Hand abhacken und sie seinem Sohn übersenden.«
    »Aber warum hat er sich so eigenartig verhalten?«, fragte Sir William.
    »Er hoffte, der Anblick dieser Hand würde Lord Audley an seine Pflicht gegenüber Gott erinnern und ihn dazu bewegen, ihm mehr Achtung zu schenken als seinem Vater.«
    »Eigenartig«, wiederholte Sir William.
    »Und haben sie ihm denn die Hand abgehackt?«, wollte Charlotte wissen.
    »Weiß ich nicht«, entgegnete ihr Holland unbeteiligt wie immer. »Er starb in Frankreich. Schon möglich. Dort hacken sie den Leuten ja gerne den Kopf ab. Die eine oder andere Hand macht da sicher keinen großen Unterschied.«
    »Oh«, schrie Charlotte, »ich frage mich, was Lord Audley wohl gemacht hat, als er die Hand erhielt. Glaubst du, sie kam mit der Post, wie ein Brief? Man stelle sich vor, eine Hand zu bekommen, wenn man eine Schachtel mit Süßigkeiten erwartet!«
    »Aber so etwas würde doch bestimmt niemand zustellen«, protestierte Susannah. »Bist du dir sicher, dass dies eine wahre Geschichte ist, Bobs?«
    Holland fragte sich, ob irgendeine andere Frau gleichzeitig so verstört und dabei so schön aussehen konnte, und fühlte sich bestätigt. »Bei der Küstenwache hat man mir geschworen, dass er sie abgehackt und verschickt wissen wollte«, sagte er mit einem Achselzucken. »Einer der Offiziere hatte sein Testament gesehen.«
    »Ich fürchte, bei all diesen Schauergeschichten wirst du noch schlecht träumen«, meinte Lady Armitage und erhob sich schließlich. »Ihr Lieben. Lasst uns über einer Tasse Tee wieder auf angenehmere Gedanken kommen und die Gentlemen ihrem Wein überlassen.«
     
    Am Samstagabend gaben Mr. und Mrs. Somerville eine kleine Abendgesellschaft, zu der sie Mary und Mrs.Tipton einluden. Mrs. Tiptons Ansicht nach war dies, anders als manch anderer gesellschaftlicher Anlass, eine Einladung, die während der Trauerzeit guten Gewissens angenommen werden konnte. »Eine Feier im kleinen Kreis mit acht ehrenwerten Gästen«, bemerkte sie zufrieden, »ist nicht anstößig. Sie müssen Ihr schwarzes Seidenkleid anziehen, Mary, das mit dem Mausezahnrand am Kragen.«
    Mary bewunderte das besagte Kleid und freute sich darauf, es zu tragen. Trotzdem hätte sie die Einladung auch genauso gut ausschlagen können. Eigentlich war sie nicht in der Stimmung für ein gesellschaftliches Ereignis, egal wie ehrenwert es auch sein mochte. Gerade diese Ehrbarkeit trug zu ihrem Unwohlsein bei. Seit sie die geheimnisvollen Dokumente gefunden hatte, schwankte ihre Stimmung stark, war aber grundsätzlich immer weiter gesunken. Auf die Erleichterung, keine weiteren geheimen Dokumente gefunden zu haben, folgten Gewissensbisse, weil sie kein Sterbenswörtchen über die von ihr gefundenen Papiere gesagt hatte. Fast hätte sie laut aufgelacht, als sie bemerkte, dass die Zahlenfolge ein Verweis auf ein Buch sein konnte, wobei die erste Ziffer dann für das Kapitel stünde, die zweite

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