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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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Ruhe lässt. Sie kommt und geht.«
    »Hoffentlich müssen Sie nicht allzu sehr leiden, Sir«, meinte Mrs. Somerville, die hochgewachsen und auf angenehme Weise schwer von Begriff war. Als man sie von Marys Ankunft in der Nachbarschaft in Kenntnis gesetzt hatte, fragte sie sich zunächst, ob sie Mary in ihre Obhut nehmen sollte. Noch bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte, meldete Mrs. Tipton allerdings bereits ihren Anspruch an, und dies machte nach Meinung beider Frauen jedwedes andere Arrangement hinfällig.
    »Wie belieben?«, fragte Miss Hunnable und beugte sich vor, um Mr. Goudges Bemerkung zu verstehen. »Was hat er?«
    »Gicht, Tante«, antwortete ihr Neffe. »Mr. Goudge hat die Gicht.«
    »Aha. Er sollte sie sich besser gleich entfernen lassen«, sagte sie daraufhin und nickte. Mary fiel die große Ähnlichkeit zwischen Mr. und Miss Hunnable auf: Mr. Hunnable konnte sich jederzeit als seine Tante ausgeben, wenn er Taubheit vortäuschte und sich anders kleidete. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln, und sie wünschte sich, Captain Holland wäre da, um gemeinsam mit ihr über diesen Witz zu lachen, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie überhaupt nicht an ihn denken durfte. Sie überlegte kurz, ob sie ihre Beobachtung Mr. Déprez gegenüber erwähnen sollte, entschied dann aber doch, dass sie ihn dafür nicht gut genug kannte.
    »Tapferkeit, Mrs. S., Tapferkeit«, sagte Mr. Goudge und lächelte fröhlich. »Die Römer haben das zu ihrer Devise gemacht, wissen Sie, und für uns gibt es nichts Besseres, als es ihnen gleichzutun.«
    »Sie brauchen kein Mitleid mit ihm zu haben«, entschied Mrs. Tipton, »denn er ist selbst schuld daran. Männer ruinieren sich mit allem, wonach es sie gelüstet. Häufig ist es der Portwein. Man sollte meinen, mit zunehmendem Alter wären sie so schlau, Exzesse zu vermeiden, aber das ist nur selten der Fall.«
    »Das sollte man sicher meinen, Madam«, sagte Déprez, »aber heißt es nicht, ›wenn Männer im Alter tugendhaft werden‹ - falls Sie mir die Bemerkung erlauben, Sir -, ›dann opfern sie Gott nur, was der Teufel übrig gelassen hat‹?«
    »Ach, ja! In meinem Alter kommt man nicht umhin, daran erinnert zu werden«, rief Mr. Goudge aus, »aber was sagten Sie doch gleich über dem Teufel dargebrachte Opfer? Da fragen Sie wohl lieber den Pfarrer.«
    »Ist das eine alte Druidenweisheit?«, wollte Mr. Hunnable wissen, wobei er höchst interessiert blinzelte.
    Mary sah auf ihren Teller. »Es hört sich an wie von unserem Freund, Mr. Swift«, schlug sie vor und hob den Blick erst wieder, als sie sich sicher war, dass sie die Fassung bewahren konnte, »aber das Zitat erkenne ich nicht.«
    »Da haben Sie recht«, entgegnete Déprez mit einem Lächeln, aus dem sie schließen konnte, dass er sich über mehrere Dinge gleichzeitig amüsierte. »Es stammt aus ›Anmerkungen zu verschiedenen Themen‹.Wie schade, dass er heutzutage so aus der Mode gekommen ist.«
    Von Swift wandten sie sich Pope, Dryden und Gray zu. »Ach, seine ›Elegie‹ ist das großartigste englische Gedicht«, schwärmte Déprez.
    »Ich glaube, es war ein Lieblingsgedicht von General Wolfe«, bemerkte Mary, »einem sehr heroischen Mann. Er sagte, er hätte lieber Grays ›Elegie‹ geschrieben als Quebec einzunehmen, was er anno 59 tat.«
    »Bei diesem Wunsch hatte er sicher das Mitgefühl des französischen Kommandeurs. Wie hieß er noch gleich? Montcalm? Der hätte es wohl auch lieber gesehen, wenn sich sein Gegner auf literarische Abenteuer beschränkt hätte«, meinte Déprez und lachte.
    »Man stelle sich nur vor, während einer Schlacht Gedichte zu lesen«, murmelte Mrs. Somerville. »Das hört sich merkwürdig an, obgleich man sagt, die Franzosen seien sehr poetisch veranlagt.«
    »Aber nein, meine Liebe«, entgegnete Mr. Somerville, »da verwechselst du etwas.Wilson«, sagte er dann zum Butler, »die Teller der Damen sind leer.Tragen Sie doch noch etwas mehr Roastbeef auf.«
    Während das Essen herumgereicht wurde - Roastbeef und gleich danach Eintopf mit Wildfleisch, Austern, frittierter Sellerie, Kalbfleisch sowie Putenscheiben in Backpflaumensoße, und das war nur der erste Gang -, gab Déprez seine Ansichten über die Theateraufführungen zum Besten, die er bei seinem letzten Aufenthalt in London gesehen hatte. Er gestand, seine Passion für das Theater sei groß, wenn eine fähige Kompagnie mit einem Werk der Dramatiker ersten Ranges zurechtkam. Als Mary ihrerseits zugab, sie würde

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