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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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für ihn. Zudem sieht er gut aus und hat eine ausgezeichnete Adresse, nicht wie der andere Kerl. Der sah aus, als ob er geradewegs aus einem Gefecht kam.«
    Dass sie den Namen Paul Déprez fallen ließ, erhöhte Marys Unbehagen noch, und auf der Suche nach einer Antwort geriet sie ins Schwimmen. Schließlich hatte Captain Holland ja wirklich ein Gefecht hinter sich gebracht.
    Mrs. Tipton tat dies ab. »Nun, er sah aus wie ein Raufbold. Und zudem sollten Sie keinen Gedanken daran verschwenden, ob ein Mann gutaussehend ist. Äußerlichkeiten können trügerisch sein, und es ist immer die Frau, die für fehlenden Weitblick zahlen muss.«
    »Jawohl, Ma’am.«
    Die Kutsche verlangsamte das Tempo und machte einen Ruck, sodass Mary fast von ihrem Sitz fiel. »Oh«, sagte Mrs. Tipton, als sie aus dem Fenster blickte, »wir sind schon da.«
    Woolthorpe Manor war wesentlich größer als Lindham Hall und wirkte auf die unerfahrene Mary sogar fast schon zu wuchtig. Lindham Hall dagegen sah auf angenehme Weise ein wenig heruntergekommen aus, als hätten sich Generationen der Tipton-Familie schon so sehr an die lockeren Treppengeländer und jene Tür zum zweiten Empfangszimmer, die sich nur schließen ließ, wenn man sie leicht anhob und dann zudrückte, gewöhnt, dass sie die Notwendigkeit einer Reparatur gar nicht mehr sahen. Mr. Somervilles Anwesen dagegen zeugte - von den sorgfältig landschaftsgärtnerisch gestalteten Parkanlagen bis hin zu den eleganten, wunderschön eingerichteten Zimmerfluchten - von einer guten, kapitalkräftigen Verwaltung. Wenngleich beeindruckend, empfand Mary diese Eleganz doch als irgendwie überwältigend. Alles sah sehr hübsch aus, aber war das nicht zu viel des Guten? Ein Großteil des Mobiliars schien zu zerbrechlich zu sein, als dass man es hätte nutzen können, und mit den vielen Spiegeln und vergoldeten Oberflächen glitzerten die Räume förmlich. Während sie dem livrierten Diener folgte, fühlte sie sich unsicher in ihrem neuen Kleid. Vielleicht ging es einem so, wenn man bei Hofe vorgestellt wurde. Sie malte sich aus, wie sie ihren Hofknicks zu tief machte und nicht wieder hochkam. Gab es dann jemanden, der einem die Hand reichte? Bei Damen mit Rheuma passierte dies bestimmt unentwegt, und schließlich konnte man ja nicht vom König erwarten, einem wieder auf die Beine zu helfen.
    Auf ihrem Weg durch den endlos langen Korridor blieb Mary dieses Bild seiner Majestät im Gedächtnis. Ganz am Ende öffnete jemand eine Tür und gab den Blick auf einen Salon frei, in dem alles, was sich nicht bewegte, entweder gemalt, eine Einlegearbeit oder mit rosafarbener Seide bespannt war. Hier gesellten sie sich zu den anderen Gästen. Doch die Anwesenden waren nicht ganz so hinreißend: ihre Gastgeber, Mr. Hunnable nebst seiner Tante, Mr. Déprez und ein ältlicher Herr namens Goudge, ein Nachbar der Somervilles. Er und Mrs. Tipton begannen sogleich eine Konversation, und Mary fühlte sich ein wenig verloren. Sie stellte sich nicht besonders geschickt dabei an, eine belanglose Unterhaltung zu führen, und Mrs. Hunnable war zudem noch nahezu taub, sodass Mary das Gefühl hatte, die ganze Gruppe würde ihre belanglosen Bemerkungen mit anhören.
    Ein Trost war jedoch, dass Mr. Déprez sie zum Esstisch führte. Auf Dauer blieb die Mischung aus ganz passablem Essen, gutem Wein und den angenehmen Aufmerksamkeiten von Mr. Déprez nicht ohne Wirkung auf Mary. Sie begann sich zu amüsieren. Mit der verwirrend großen Auswahl an Gläsern und Besteck und den ungewöhnlichen Gerichten kam sie sehr gut zurecht. Sie vergaß sogar die Bürde eines möglichen Verrats ihres Onkels. Würde man sie nach ihrer Meinung fragen, würde Mrs. Tipton beteuern, Mary hätte noch nie so hübsch ausgesehen. Aber hatte sie nicht immer schon gesagt, Mary sei ein ganz reizendes Mädchen, wenn sie nur etwas aus sich machen würde? Und es war sicherlich ein sehr schöner äußerer Rahmen. Cornelia Somerville hatte reichlich auftischen lassen, das musste man ihr zugute halten - obwohl sie in diesem rosafarbenen Satinkleid aussah wie ein Schwein, das ins Gefecht zog.
    Mary und Déprez redeten über Poesie, während die anderen Gentlemen endlos über das Wetter diskutierten und darüber, wie wahrscheinlich es war, dass der Boden fest bliebe, damit man vor Weihnachten noch ordentlich Sport treiben konnte. »Nicht dass ich von einem Wetterwechsel profitieren könnte«, beklagte sich Mr. Goudge, »solange diese elende Gicht mich nicht in

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