Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
Vom Netzwerk:
liegen, und mit genügend Bettzeug gab es dann auch keinen Grund zu frieren. Was sich jedoch nicht unter der Decke befand, fiel unweigerlich den eisigen Temperaturen in der Schlafkammer anheim. Bisher hatte Mary sich an diese Regel gehalten, bei Mrs. Bunbury war sie weit kargere Verhältnisse gewohnt gewesen: Das Bettzeug war dünner, und es hatte aus allen Ecken und Winkeln gezogen. An diesem Abend jedoch legte sie unbekümmert Brennstoff nach. Wenn nicht jetzt, wann sonst konnte man von einem Ausnahmefall sprechen?
    Während sie ihre Kleider in den Schrank räumte und sich die Haare kämmte, versuchte Mary nicht an die Dokumente zu denken, die am anderen Ende des Raums auf sie warteten, doch das war alles andere als einfach. Woran sie auch dachte, früher oder später brachte sie jeder andere Gedanke - an White Ladies, an ihre Erbschaft, selbst an Mrs. Bunburys Schule - unweigerlich zurück zu den Dokumenten. Denn hätte sie die Schule nicht verlassen, wäre sie Mr. Tracey nie begegnet, nie nach White Ladies gekommen und nie in die ganze Sache verstrickt worden.
    Nun, es war sinnlos, über all das jetzt nachzudenken. Was es auch sein mochte, sie war so oder so darin verstrickt. Gedankenverloren betrachtete sie sich im Handspiegel. Allmählich kreisten ihre Gedanken wieder um die Abendgesellschaft. Und um Mr. Déprez. Ein in der Tat ausgesprochen gutaussehender Mann, wiewohl sie nicht solch einen Wert auf Äußerlichkeiten legen sollte, aber zudem war er intelligent, aufmerksam, und sie hatten einige gemeinsame Interessen. Ohne es zu wollen, stellte sie sich eine ähnliche Konversation über Poesie mit Captain Holland vor und musste unwillkürlich lächeln. Hätte sie mit ihm über die Werke von Pope gesprochen, hätte er womöglich gedacht, sie spräche von einem Pfaffen! Er hatte sicherlich nicht Rasselas gelesen und wäre auch nicht in der Lage, über Addisons Essay »Über die Freuden der Einbildungskraft« zu diskutieren. Mr. Déprez dagegen schien sich auszukennen: mit Kunst, Musik, Literatur und dem Theater... Doch schon allein bei diesen Gedanken bekam sie Gewissensbisse. War es denn fair, Captain Holland und Mr. Déprez miteinander zu vergleichen? Und war er nicht auch sehr klug - auf seine Art? Bestimmt wusste er alles Mögliche über höchst bedeutsame militärische Dinge, die man allerdings wohl nicht gerade auf Abendgesellschaften diskutierte. Und er hatte sie aus White Ladies gerettet. Das war doch schließlich wichtiger als Poesie!
    Aus dieser plötzlichen Verwirrung der Gefühle heraus warf sie den Spiegel aufs Bett und ging entschlossen in ihrer Kammer auf und ab. Was für ein dummes Ding sie doch war, sich über zwei Männer den Kopf zu zerbrechen, die sie kaum kannte und die wohl binnen eines Monats ganz aus ihrem Leben verschwunden sein würden. Wie konnte sie nur so töricht sein. Und warum um alles in der Welt verglich sie die beiden obendrein auch noch miteinander? Captain Holland käme sicher nie mehr nach Lindham zurück, und Mr. Déprez … nun, es waren nichts als Luftschlösser.
    Sie setzte sich wieder an den Frisiertisch und dachte über ihre unergiebigen Kritzeleien nach. Drei Schlüssel, denn die Sätze von Blackstone mussten doch den Schlüssel zu den drei Dokumenten liefern, oder? Aber alle drei Sätze enthielten nur dreiundzwanzig Buchstaben. Wie sollte sie das Alphabet vervollständigen, um auf sechsundzwanzig zu kommen? Da fiel ihr Blick auf die aufgeschlagene Seite 104, und sie begann aufs Geratewohl über die der britischen Krone unterstellten Inseln zu lesen, die Teil eines angrenzenden Landes waren. Etwas, das in etwas anderem enthalten war. Plötzlich kam ihr eine Idee: Anstatt drei Buchstaben aus dem richtigen Alphabet wegzulassen, konnte sie diese auch anderen hinzufügen.
    Die Typografie der Kommentare gab ihr den entscheidenden Hinweis: Das lang gezogene S und das F ähnelten einander und konnten daher möglicherweise zusammengehören. Gab es noch weitere Paare? Ihr Herz schlug nun schneller. »Denk nach, denk nach!«, rief sie aus, während sie mit den gefalteten Händen immer wieder leicht an ihre Lippen tippte. »Denk nach!«
    Sie lehnte sich zurück, und plötzlich umspielte ihren Mund ein Lächeln. I und J waren austauschbar - zwar nicht im Englischen, aber im Lateinischen, und genauso U und V.Wie wahrscheinlich war es, dass man bei der Verschlüsselung, welche die Schmuggler benutzten, eine Besonderheit des Lateinischen mit eingearbeitet hatte? Sehr wahrscheinlich

Weitere Kostenlose Bücher