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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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Déprez versperrte ihm den Weg.
    »Zum Streiten braucht es immer zwei«, fauchte er, »also gehen Sie nicht weg, wenn Sie einen Streit provozieren wollen.«
    Die beiden sahen einander wütend an, dann wandte Holland den Blick ab und zuckte zustimmend mit den Achseln. »Sie haben recht«, gab er zu. »Tut mir leid. Diese ganze Sache … macht mich ziemlich nervös.«
    »Ich glaube, wir sind beide noch nicht ganz wach«, erwiderte Déprez, nun ebenfalls entspannter. »Kommen Sie«, drängte er und klopfte Holland kameradschaftlich auf die Schulter: »Ich weiß, Sie frühstücken auf Reisen nicht, aber lassen Sie uns doch wenigstens einen Kaffee zusammen trinken.«
     
    Untröstlich wäre ein zu starkes Wort, um Marys Gefühlslage zu beschreiben, als sie an jenem Morgen erwachte, aber sie fühlte sich tatsächlich ziemlich matt und lustlos. Captain Holland war fort, und was sie insgeheim »das Abenteuer« genannt hatte, war vorüber, zumindest was sie selbst anbelangte. Es kam ihr vor, als hätte sie sich auf einer aufregenden Reise befunden - eine Weile hatte sie sogar die Zügel selbst in der Hand gehalten -, doch jetzt hatte man sie an einer nicht besonders interessanten Station abgesetzt, während das Abenteuer ohne sie weiterging. Sie nahm an, am Ende würde jemand kommen und ihr erzählen, wie alles ausgegangen war - Mr. Somerville vermutlich oder jemand ähnlich Langweiliges. Und es regnete schon wieder. Tagaus, tagein schien das so zu gehen, und sie bezweifelte stark, dass je wieder etwas Aufregendes passieren würde. Es war wirklich ungemein schwierig, ein Abenteuer zu erleben. Und im Vergleich dazu kam einem alles andere schal vor. Nach gut zehn Minuten an ihrem Fensterplatz hatte sie lediglich beobachtet, wie eine Amsel im gefallenen Laub herumpickte und der Regen an der Stallwand herunterlief, dort wo die Dachrinne beschädigt war. Sie kleidete sich an, ging nach unten und fragte sich dabei, ob sie genauso niedergeschlagen aussah, wie sie sich fühlte.
    Beim Frühstück lieferte ihr Mrs. Tipton die Antwort. »Sie sind ja nicht sonderlich gesprächig heute«, bemerkte sie, während sie Mary über ihren Brillenrand hinweg ansah. »Rührt das vielleicht daher, dass Sie einem gewissen Gentleman hinterhertrauern?«
    Mary wünschte, ihre Gastgeberin hätte zumindest ein anderes Verb verwendet. Von jemandem zu »träumen« erschien ihr schon nicht besonders vernünftig, aber »hinterhertrauern« klang geradezu lächerlich. Sie war sich sicher, so etwas noch nie getan zu haben. »Aber nein, Ma’am«, erwiderte sie.
    Pollock, die Köchin, hatte sich an diesem Morgen dazu herabgelassen, ihre Spezialität zu machen: kleine, mit viel Butter gebackene Brötchen. Normalerweise aß Mary diese ganz besonders gern, daher reichte Mrs. Tipton ihr den Brotkorb mit den dampfenden Köstlichkeiten herüber, während sie mit ihr sprach. Obgleich die Brötchen Mary nicht so anlachten wie sonst, nahm sie sich eines - und dann noch ein zweites -, um zu beweisen, dass sie keineswegs in irgendeiner Weise litt. Schließlich war ja allgemein bekannt, dass Liebeskranke nie hungrig sind.
    Mrs.Tipton ließ sich jedoch nicht so leicht überzeugen und fuhr fort mit ihrem Vortrag über die Vorsicht, die eine junge Dame walten lassen musste, wenn sich die Aufmerksamkeiten eines Mannes auf sie richteten. Mr. Déprez spielte bei ihren Ausführungen eine besondere Rolle. »Er scheint mir durch und durch ein Gentleman zu sein«, räumte sie ein, »und ich sage nichts gegen ihn außer dieses. Viele Männer, ja sogar Gentlemen, sind unbekümmert. Und keiner nimmt es ihnen übel; aber für eine Frau - wenn sie eine Dame ist - gilt das keineswegs.«
    »Nein, Ma’am«, sagte Mary und dachte dabei insgeheim, diese Gefahr sei bei ihr nicht sonderlich groß. »Außerdem erwarte ich nicht, Mr. Déprez so bald wiederzusehen.«
    »Wirklich? Aber das Prinzip ist immer dasselbe. Vergessen Sie das nicht, Mary, denn es wird Ihnen gut zustattenkommen, wenn all die anderen jungen Männer hier aus der Gegend anfangen, Ihnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Denn das tun sie gewiss, sobald sie erfahren, dass Sie eine Erbin sind.«
    »Ja, Ma’am.«
    Nach dem Frühstück ging Mary in den kleinen Raum an der Seite des Hauses, den Mrs. Tipton hochtrabend als Morgenzimmer bezeichnete, wo aber eigentlich nur Möbel zusammengewürfelt herumstanden, die sie nicht besonders mochte. Sie hatte sich lediglich noch nicht dazu durchringen können, sich ihrer zu entledigen. Das

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