Miss Mary und das geheime Dokument
ihn, sicher, aber gemocht hatte sie auch Mr. Déprez. Sogar verglichen hatte sie beide miteinander, und der Captain war dabei nicht immer in einem guten Licht erschienen. Mit Mr. Déprez verbanden sie gemeinsame Interessen und Neigungen, während sie mit Captain Holland nichts verband, als dass sie zusammen ein Abenteuer durchgestanden und überlebt hatten.
Sie zog ein Blatt Papier aus der Tasche ihres Kleids. Es enthielt das Gedicht, das Déprez ihr im Wagen rezitiert hatte und auf das sie im Gespräch mit einem besonders poetisch geschulten Gentleman aus dem Außenministerium gestoßen war. Ein wenig gedankenverloren las sie die folgenden Zeilen.
Leb wohl! Dich mein zu nennen wär Entweihung,
Und du weißt wohl, wie hoch du stehst imWert,
Die Kenntnis deiner selbst gibt dir Befreiung;
Mein Recht an dich hat völlig aufgehört.
Wie halt ich dich, wenn nicht durch deine Schenkung?
Und wo wär mein Verdienst für solch ein Glück?
Ich finde keins, und so ist’s keine Kränkung,
Nimmst du das Gnadenlehn an dich zurück.
Du gabst dich mir, vielleicht in Selbstverkennung,
Vielleicht weil den Beschenkten du verkannt;
Des Irrtums Gabe kehrt nach kurzer Trennung
Zu dir zurück, da sich dein Sinn gewandt.
So warst du mein wie Träume, die entschweben,
König war ich im Schlaf und nichts im Leben.
Captain Holland hätte ein solch schönes Gedicht bestimmt nicht zitieren können, oder eigentlich überhaupt keines. Und doch fühlte sie sich, wenngleich sie so unterschiedlich waren, in seiner Gegenwart wohl. Bei Déprez war es ihr in erster Linie darum gegangen, ihn zu beeindrucken. Wie erniedrigend es doch war, zugeben zu müssen, dass sie einem französischen Spion gegenüber Eindruck schinden wollte! Und schließlich hatte er das Gedicht ja gar nicht selbst verfasst. Nein, überlegte sie reuevoll, er schätzte nur schöne Gedichte und Uhren , und der Gedanke, die elegante Repetitionsuhr ihres Onkels würde nun wahrscheinlich in Paris benutzt, ließ sie ungehalten werden.
Gleich darauf zerknüllte sie das Blatt und warf es ins Kaminfeuer. Mit einem war sie nun fertig, aber der andere blieb. War es Liebe, was sie für Captain Holland empfand? - Das war eine Frage, die ihr, selbst wenn nicht laut ausgesprochen, die Röte ins Gesicht trieb. - Wie lächerlich, von Liebe auf den ersten Blick zu sprechen. Bei ihrem ersten Treffen hatte sie ihn doch noch nicht einmal gemocht. Aber vielleicht hatte sich alles so entwickelt, und sie empfand nun etwas für ihn, das diesem mysteriösen Gefühl sehr nahe kam. Sie erinnerte sich an die letzten Minuten mit ihm, wie er trotz starker Schmerzen ganz ruhig in ihrem Schoß gelegen hatte, sich aber nicht schlecht fühlte, weil sie seine Hand hielt.
Doch die Erinnerung an diese Nacht ließ sie auch ihren gesunden Menschenverstand wiederfinden, oder zumindest das, was sie dafür hielt. Vermutlich hatte Captain Holland die ganze Sache bereits vergessen. Schließlich war er damals sehr krank gewesen. Und was alles andere anbelangte, so war vieles wahrscheinlich nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie. Gentlemen waren unbekümmert, wie Mrs.Tipton schon angemerkt hatte. Und wozu sollte es gut sein, sich über ihre eigenen Gefühle klar zu werden, wenn sie gar nicht wusste, was er für sie empfand. Zu philosophieren war in Wirklichkeit ziemlich dumm, daher beschloss sie, über Captain Holland einfach nicht weiter nachzudenken.
Wie viele andere Vorsätze zweifelhafter Natur wurde auch dieser bald auf die Probe gestellt. Denn ohne jede Vorwarnung schlug Sir William vor, an ihrem letzten Nachmittag in London nach Woolwich zu fahren. »Ich kann einfach nicht abreisen, ohne Robert gesehen zu haben«, erklärte er ihr, »und ich habe soeben eine offizielle Besuchserlaubnis erhalten. Ich dachte, vielleicht nehme ich ihn mit nach Storey’s Court, das scheint jedoch nicht möglich zu sein. Leider wird es nur ein kurzer Besuch werden. Der Arme ist noch gar nicht ganz genesen, da dürfen wir ihn nicht überanstrengen.«
Sir William ließ seinen Vorschlag ganz beiläufig fallen, denn er wusste nicht, wie Mary ihn aufnehmen würde. Sie hatte nämlich noch nichts über ihren Wunsch, Robert zu besuchen, verlauten lassen, was ihn einigermaßen verwunderte. Hatte er es hier etwa mit einem Fall von weiblicher Unentschlossenheit zu tun? Seiner Erfahrung nach waren Frauen nie zögerlich, wenn es darum ging, ihre Wünsche deutlich zu äußern. Er sah Mary forschend an, als ob er es bei ihr mit einem eher
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