Miss Mary und das geheime Dokument
denn in dem Moment, als Hudson dies als höchst unwahrscheinlich abgetan hatte, blitzte vor ihren Augen ein groß angelegtes Zeremoniell auf, bei dem der König ihr mit Trompetenmusik im Hintergrund eine nicht weiter spezifizierte Auszeichnung verlieh. »Und Sie?«
»Nein. Aber ich sehe das auch eher philosophisch. Am besten, man hat keine großen Erwartungen, dann wird man auch nicht enttäuscht, sage ich immer. Und wenn man in einem Beruf wie meinem nicht philosophisch wird«, erklärte er ihr, »dann bricht einem das nur das Herz.«
Mary wusste nicht, auf was für eine Philosophie er sich bezog, aber sie stimmte Hudson zu, dass das Philosophieren ein guter Schutz gegen Enttäuschungen sei. Philosophen zeichneten sich ihrer Ansicht nach nicht so sehr durch Taten aus, sondern dadurch, dass sie über Dinge nachdachten. Wenn also jemand eine Sache zu Ende gebracht hatte, konnte er sehr wohl darüber philosophieren. Allerdings fiel ihr auf, dass sich Mr. Hudson nicht wirklich wie ein Philosoph verhalten hatte, solange noch eine Chance bestand, Mr. Déprez gefangen zu nehmen. Ihm gegenüber ließ sie darüber allerdings nichts verlauten.
Während der darauffolgenden Tage hatte sie auch selbst wenig Gelegenheit zu philosophieren. Die meiste Zeit verbrachte sie nämlich mit Treffen und Gesprächen mit Gentlemen des Innen- und Außenministeriums, der Artillerie und verschiedener anderer Stellen, wobei sie sich nicht immer im Klaren über deren Stellung innerhalb des Staatsapparats war. Jeder hatte ein bestimmtes Interesse an den vergangenen Geschehnissen, an dem, was es nun zu tun galt und was darüber berichtet werden müsse.Wie alle mit Erleichterung feststellten, erwies sich Mary gleichermaßen als sehr hilfreich, was Ersteres, und sehr vernünftig, was Letzteres anbelangte. Sie verstand voll und ganz, dass die St.-Lucia-Affäre weitestgehend vertraulich behandelt werden musste, und sie willigte ein, schädliche Einzelheiten nur teilweise oder gar nicht preiszugeben. Der Kronanwalt, mit dem sie einen ganzen Nachmittag verbrachte, beschrieb dieses ihr auferlegte Verhalten als eine vollkommen harmlose, aber höchst lobenswerte Täuschung.
Einer, der nicht vollends getäuscht wurde, war indes Sir William Armitage. Sobald er über die Verletzung seines Neffen in Kenntnis gesetzt worden war, begab er sich mit der Postkutsche nach London. Dort angekommen, erhielt er aufgrund seiner vormaligen Stellung im Schatzamt Zugang zu gewissen vertraulichen Informationen. Beispielsweise wusste er, dass Holland in Gefahr geschwebt und Mut bewiesen sowie Miss Finch dazu beigetragen hatte, dass er sicher und glaubwürdig aus der ganzen Sache herausgekommen war. Vielleicht waren sich Sir William und Mary deshalb gleich sympathisch. Er rief sich auch in Erinnerung, was Holland selbst über sie gesagt hatte: dass sie mutig, klug und hübsch sei, und sowohl, was er hörte, als auch, was er selbst beobachtete, bestätigte diese Behauptungen. Deshalb bestand er darauf, sie solle im Dorant’s Hotel logieren, einem höchst respektablen Etablissement in der Nähe seines Clubs. Ferner traf er Anweisungen, damit Mary eine auskömmliche Garderobe erhielt, da sie aus Suffolk nichts mitgenommen hatte außer den Kleidern, die sie am Leibe trug.
Nachdem die verschiedenen Gespräche beendet waren und die Männer aus den diversen Abteilungen in ihre Schreibstuben zurückkehrten, um einen Bericht zu verfassen, dachte Mary wieder an Hudsons Worte. Nun hatte sie endlich Zeit zum Nachdenken: nicht so sehr über das Geschehene, sondern darüber, was wohl als Nächstes passieren mochte. Seit nunmehr fast vierzehn Tagen weilte sie in London, und Sir William meinte, beide sollten nach Hause zurückkehren. Mary pflichtete ihm bei, fragte sich aber, ob man ihr gestatten würde, Captain Holland zu sehen, bevor sie der Großstadt den Rücken kehrte. Da er weiterhin ärztliche Behandlung benötigte, hatte man ihn nach Woolwich gebracht. Bis dorthin war es von London aus jedoch nicht sonderlich weit - das hatte sie im Atlas nachgeschaut, den ihr das Innenministerium zur Verfügung gestellt hatte -, und es gab eine regelmäßige Kutschverbindung. Die Details hatte sie von einem hilfsbereiten Schreibstubensoldaten in Erfahrung gebracht.
Dass sie Holland sehen wollte, stand außer Frage, aber sie glaubte, sie müsse sich über ihre Gefühle für ihn noch mehr Klarheit verschaffen. Das war jedoch nicht so einfach, denn was empfand sie eigentlich für ihn? Sie mochte
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