Miss Mary und das geheime Dokument
»vielleicht hat eins einen lockeren Verschluss oder ist sogar offen.«
»Ich glaube nicht …«, hob er an, doch dann korrigierte er sich und meinte nur: »Ach, in Ordnung«, und wandte sich ab. Es brachte ja doch nichts, wenn man sich mit ihr stritt, wie merkwürdig ihre Einfälle auch sein mochten.
Auch wenn sich seine Begeisterung in Grenzen hielt, machte er doch gewissenhaft, was sie ihm aufgetragen hatte, und stellte bald fest, dass Marys Idee gar nicht so merkwürdig war. Sie eilte zu ihm.
»Hier ist Ihr Einbruch«, verkündete er und rüttelte an einem lockeren Verschluss. »Kann sein, dass ich den Rahmen etwas demolieren muss, aber hier komme ich rein.«
»Wunderbar«, rief Mary. »Ach, ich wusste, es gibt einen Weg. Das Gesinde ist oft ein wenig vergesslich, besonders, wenn der normale Tagesablauf durcheinandergerät. Deshalb habe ich auch an den Schlüssel gedacht.«
»Welchen Schlüssel?«
»Der Schlüssel unter der Matte. Es ist gar nicht ungewöhnlich, den Schlüssel unter dem Fußabtreter oder einem Blumentopf in der Nähe zu deponieren, wenn man aus dem Haus geht. Natürlich nicht, wenn man länger wegbleibt, dann ist es gefährlich, den Schlüssel herumliegen zu lassen, weil Diebe ihn finden können.«
»Und - haben Sie denn einen Schlüssel gefunden, Miss Finch?«
»Ja. Unter einer der losen Steinplatten unten an den Stufen.«
»Passt er in die Tür?«
»Das habe ich noch nicht ausprobiert. Ich hatte ihn just gefunden, als Sie nach mir riefen.«
»Dann lassen Sie es uns mit dem Schlüssel versuchen«, meinte Holland und nahm ihn an sich. »Wenn möglich, möchte ich das Fenster Ihres Onkels nicht einschlagen.«
»Sicher«, stimmte Mary ihm zu. »Wenn wir allerdings gezwungen wären, etwas leicht zu beschädigen, kann ich mir nicht vorstellen, dass er einen von uns strafrechtlich verfolgen ließe.«
»Nein? Na, das sind doch gute Neuigkeiten.«
Die Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung wurde - jedenfalls für den Augenblick - hintangestellt, denn der Schlüssel passte. Die Tür öffnete sich, und sie betraten das breite und überraschend hohe Vestibül. Ein flüchtiger Blick in die angrenzenden Räume bestätigte ihnen, dass das Haus in der Tat unbewohnt war. Einen Großteil der Möbel hatte man mit großen Laken abgedeckt und zu nichtssagenden Gebilden reduziert sowie die Teppiche eingerollt. Die Kamine waren frei von Asche und die Tische ohne Zierrat. Nur wenig Staub und ein leichter Geruch nach Politur legten nahe, dass die Bewohner erst vor Kurzem das Haus verlassen hatten. Mehr war auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Auf alle Fälle fand sich kein Hinweis, wohin Mr. Finch aufgebrochen war und warum.
Mary und Holland beschlossen nun, getrennte Wege zu gehen, um auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Er wollte so viel wie möglich von Mr. Finchs Nachbarn in Erfahrung bringen, während sie sich daranmachte, das Haus genauer zu untersuchen. Bevor er hinausging, bestand Holland darauf, einen der Salons wieder herzurichten, indem er ein Feuer anzündete, und er drängte Mary, wenn ihr danach sein sollte, könne sie sich bis zu seiner Rückkehr auch dort aufhalten und versuchen, es sich bequem zu machen.
»Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus, hier alleine zu bleiben?«
»Aber nein«, antwortete sie. Das hatte er sich schon gedacht. »Ich werde mich ganz genau umsehen. Vielleicht finde ich einen Brief oder eine Notiz mit einer Erklärung, warum mein Onkel verreist ist oder etwas Ähnliches. Und ich versuche, etwas Essbares für uns aufzutreiben.«
»Gut.Verriegeln Sie aber die Tür, und öffnen Sie nur, wenn Sie sicher sind, dass ich es bin.«
»Sie glauben doch nicht etwa …«
»Nein. Aber es kann nicht schaden, vorsichtig zu sein.«
Nachdem sie die Tür verriegelt hatte, begann Mary mit ihrem Rundgang durch das Haus, das, wie man schon von außen hatte sehen können, zwei verschiedene Etagen aufwies. Im Parterre gab es einen zentralen Hof oder Kreuzgang, von dem Räume abgingen, die verschiedenen Dingen vorbehalten waren wie Büchern und Turngeräten; ein anderer Raum diente der Konversation, ein weiterer der Verwaltung des Gutes. Am südlichen Ende befand sich die neue Vorhalle und was von der Kapelle noch übrig geblieben war. Speisesaal und Küche lagen im nördlichen Teil. Der erste Stock erstreckte sich nur über die Ostseite des Hauses und konnte von zwei Treppen aus erreicht werden. Hier entdeckte Mary mehrere Kammern für Mitglieder der Familie, Gäste und
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