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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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mit Schmökern hätte verbringen können. Eine Zeit lang tat sie auch genau dies. Irgendwann sah sie dann aber doch von einem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Bericht über das Leben von Karl dem Großen auf und gewahrte, dass sie fror und Hunger verspürte. Da entsann sie sich wieder des gemütlichen Salons und der über dem Feuer backenden Kartoffeln. Und sie dachte an Captain Holland, der bereits eine ganze Weile fort war und sicher jeden Augenblick zurückkehrte. Daher war es nicht gut, wenn er sie hier vertieft in etwas vorfände, das nichts mit ihrem Anliegen zu tun hatte.
    Nachdem sie Karl den Großen sowie die anderen Bände in die Regale zurückgestellt hatte, verließ sie die Bibliothek und zog die Tür fest hinter sich zu. Was hatte es bloß mit diesem Geräusch auf sich, dass es eine weitere deutlich spürbare Angstwelle in ihr auslöste und sogar die Kerze in ihrer Hand leicht zittern ließ? Gewiss war es möglich, sich selbst zu erschrecken, wenn man Geistergeschichten erzählte oder sich vorstellte, das Rascheln einer Efeuranke gegen das Kammerfenster sei in Wahrheit jemand, der sich gewaltsam am Riegel zu schaffen machte, oder … Sie erschauerte beim Gang durch die dunklen Korridore und beschleunigte unbewusst ihre Schritte. Das ist doch vollkommen lächerlich!, sagte sie sich. Aber es wurde noch schlimmer, wenn sie ihre Kerze höher hielt, da diese dann eines der Porträts teilweise erleuchtete und es wie einen über ihr schwebenden geisterhaften Kopf erscheinen ließ. Da sie nun aber einmal begonnen hatte, an mysteriöse Geräusche und sich im Dunkeln bewegende Dinge zu denken, war es schwer, damit aufzuhören. Und was war, wenn ihre Kerze erlosch?
    Glücklicherweise geschah dies nicht, und sie fühlte sich schon viel besser, als sie wieder im hellen und warmen Salon anlangte. Nachdem sie dort alle Kerzen angezündet hatte, um Unfällen vorzubeugen, schalt sie sich ob ihrer blühenden Fantasie und setzte sich, um auf Captain Hollands Rückkehr zu warten. Ihm gegenüber brauchte sie nichts von alledem zu erwähnen. Er hatte keinerlei Fantasie oder glaubte gar, so etwas existiere überhaupt nicht. Sie würde ihm jedenfalls keine Gelegenheit bieten, sie auszulachen. Tatsächlich... Oh! Sie fuhr hoch, als Holland sich bemerkbar machte, indem er an das Fenster klopfte.
    Es regnete wieder, und beim Betreten des Salons zog er als Erstes den nassen Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Dann schob er einen anderen Stuhl nah ans Feuer und setzte sich. An seinem ernsten Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass etwas geschehen war. Trotzdem fragte er erst einmal Mary, ob sie in der Zwischenzeit etwas entdeckt habe. Erst als sie den Kopf schüttelte, gab er seine Neuigkeiten preis: Mr. Finch war tot.
    Holland sagte dies ganz sachlich. Um Mr. Finchs Gesundheit hatte es wohl schon seit einer Weile nicht zum Besten gestanden. Er hatte sich eine Erkältung zugezogen, die einem kräftigeren Mann zwar nichts hätte anhaben können, er aber wurde schwer krank und verstarb vor fast zwei Monaten.
    Mary schwieg zunächst. Die Neuigkeit überraschte sie, und doch hatte sie so etwas schon fast erwartet. Nun machte sich ein merkwürdig taubes Gefühl in ihr breit. »Tot. Ja, ich wusste von seiner Krankheit, er erwähnte in seinem Brief, ihm gehe es nicht sonderlich gut. Er kam ja erst viel später bei mir an, da er nicht an die richtige Adresse geschickt worden war. Das erklärt den Zustand hier im Haus. Wie … haben Sie davon erfahren?«
    »Am Strand waren ein paar Männer.«
    Danach saßen sie sich eine Weile stumm gegenüber, Mary mit gefalteten Händen und gesenktem Blick, während Holland das Spiel der Flammen beobachtete.
    »Ich will nicht behaupten, dass ich um meinen Onkel trauere«, sagte sie dann bedächtig, »schließlich sind wir uns nie begegnet. Aber es ist … Er war mein einziger Verwandter, und jetzt werde ich ihn nie mehr kennenlernen.« Sie wollte sich nicht bewusst Captain Holland anvertrauen, aber wie sie hier im Hause ihres Onkels, genau wie er früher, am Feuer saß, verspürte sie Mitgefühl für den Toten, das sie nicht zu unterdrücken vermochte. Und auch dies war beunruhigend und brachte sie dazu, darüber zu sprechen.
    »Ich hatte es noch nicht erwähnt, aber mein Vater und mein Onkel zerstritten sich vor vielen Jahren. Deshalb bin ich ihm nie begegnet.« Sie blickte Holland kurz an, aber seine Miene blieb unverändert. »Die Familie Finch war sehr wohlhabend. Als Erstgeborener

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