Miss Mary und das geheime Dokument
das Gesinde.
Überall, aber besonders im Parterre, war das Alter des Hauses sichtbar, und dass es vormals als Kloster gedient haben musste. Niedrige Rundbögen und massive Holztüren, geflieste Dielen und die große altmodische Küche deuteten auf ein Haus mit langer Vergangenheit hin. In der Kapelle, die leider größtenteils der neuen Vorhalle zum Opfer gefallen war, hatte man alles, was an den Katholizismus erinnerte, erbarmungslos entfernt. Der Kreuzgang strahlte jedoch immer noch Ruhe aus, und der große nüchterne Speisesaal konnte wohl nach wie vor als Refektorium bezeichnet werden. Selbst oben, wo die Größe der Räume auf ein jüngeres Entstehungsdatum hinwies, evozierten fehlende Bettpolster und Leinen sowie die tadellose Sauberkeit die Strenge eines Klosters. Während sie all dies betrachtete, gratulierte Mary sich selbst, denn ihre Vermutung, der Name White Ladies bezöge sich auf Nonnen, die hier früher einmal gelebt hatten, erwies sich als richtig.
In der Küche und der Vorratskammer fand sie ebenfalls viel Sehenswertes. Die mehr oder weniger achteckige Küche verfügte über zwei riesige Feuerstellen und einen kleineren, aber immer noch großzügig gehaltenen Ofen. In den offenen Schränken stand ein großes Sortiment an Töpfen, Pfannen, Backformen und Schalen. Die Wände schmückten seltsame und teilweise sogar furchterregend aussehende Haken, Bratspieße und Hackbeile.
Mary war keine gesegnete Köchin, und in den vergangenen drei Jahren hatten ihre kulinarischen Künste sich darauf beschränkt, Kräutertee aufzubrühen und Brot über dem Feuer in ihrer Kammer zu toasten. Beim Betrachten der großen Eisenkessel, die ordentlich aufgereiht in einem der Kamine standen, und der komplexen Maschinerie, die man im anderen hinzugefügt hatte, damit die Spieße sich drehen konnten, hatte sie Bedenken, ob sie überhaupt in der Lage war, hier ein warmes Essen zuzubereiten. Vorausgesetzt , grübelte sie , hier gibt es überhaupt etwas Kochbares .
Bei der Inspektion der Vorratskammer, in der sich auch die Speisekammer befand, kamen schließlich Zutaten für eine recht ausgefallene Mahlzeit zutage. Frische Nahrungsmittel hatte man offenbar vor der Abreise aufgebraucht oder entsorgt. Zuerst konnte Mary nur Dinge finden, die sich lange aufbewahren ließen: Gläser mit Eingemachtem, Nüsse, Gewürze und mehrere Säcke getrockneter Erbsen. Bei näherem Hinsehen fand sie jedoch auch anderes. In einem der Küchenschornsteine hing nämlich ein ordentliches Stück Schinken, und in einer mit Erde gefüllten Kiste entdeckte sie eine Handvoll Kartoffeln, die erst unlängst zu keimen begonnen hatten. In einem der Schränke fand sie einen Stoffbeutel mit ziemlich harten, aber noch essbaren Keksen. Dies alles zusammen würde sie zumindest vor dem Verhungern bewahren. Zu trinken gab es indes ausreichend, denn Mary stieß auf eine Teebüchse, ein paar Flaschen Wein und noch mehr Fässer, in denen sich wohl Bier befand.
Mary nahm lediglich die keimenden Kartoffeln mit und kehrte in den Salon zurück. Dort legte sie sie auf die glühenden Holzscheite, gab noch mehr Holz dazu und fuhr danach mit ihrer Erkundung fort. Bei ihrem Gang von Raum zu Raum warf ihre Kerze leuchtende und flackernde Schatten an Wände und Decken, sodass ihr immer unwohler wurde. Zwar konnte sie nicht genau sagen, was sie beunruhigte, aber angesichts der Dunkelheit und Stille im Haus hatte sie das Gefühl, etwas Ungutes könne passieren. Im Flur blickten mehrere Gestalten aus riesigen, bedrückend wirkenden Porträts finster auf sie herab und vergrößerten so noch ihre innere Unruhe. Um sich selbst Mut zu machen, fing sie ganz selbstbewusst an, das Lied »O God Our Help In Ages Past« vor sich hin zu summen.
Die Bibliothek erwies sich jedoch als handfestere Trostquelle. Abgesehen vom Speisesaal war dies der größte Raum auf White Ladies. Die beachtliche Büchersammlung von Mr. Finch fand hier kaum Platz. Die Regale waren so angelegt, dass die Bände nach Größe und Thema gut untergebracht werden konnten. Über großen schweren Astrologie-Bänden standen kleinere und noch darüber winzige naturwissenschaftliche Bücher. Griechische, italienische, französische und englische Literatur stand oberhalb von Theologie und Moralphilosophie. Juristisches und Historisches wurde abgelöst von Physik- und Mathematikbüchern, die auf Atlanten, Wörterbücher und gebundene Partituren hinabsahen.
Es war die Art von Raum, in dem Mary einen glücklichen Nachmittag
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