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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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äußerlich und vom Wesen her ähneln? Bei nahen Verwandten traf dies manchmal zu, selbst wenn sie einander jahrelang nicht gesehen hatten. Sie lachten auf die gleiche Weise oder hatten dieselben Gesichtszüge. Mary wusste nicht, ob sie überhaupt von einem Fremden an ihren geliebten Vater erinnert werden wollte. Das konnte wirklich peinlich werden, und da sie Brüder waren, gab es möglicherweise eine sehr ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen ihnen. Und dann waren da noch die anderen Dinge: die merkwürdige Sache mit Mr. Tracey, dann die Männer im Crown und die Uhr - die Uhr ihres Onkels. Was hatte dies alles zu bedeuten? Kannte ihr Onkel Mr. Tracey? Wäre er betrübt, wenn er von seinem Tod hörte? Auf einmal wünschte sie sich, der Wagen möge noch schneller fahren, damit sie baldmöglichst in White Ladies ankäme und eine Antwort auf all ihre Fragen erhielte, aber gleichzeitig fürchtete sie sich auch vor ihrer Ankunft.
    »Machen Sie sich Sorgen?«, fragte Holland und unterbrach sie in ihrem Sinnieren.
    »Sorgen? Was meinen Sie damit?«
    »Sie sind so still geworden, und gerade eben schauten Sie wie ein Terrier beim Anblick einer Ratte.«
    Sie lächelte, obwohl sein Vergleich ihr nicht gerade schmeichelte.
    »So ist es besser«, meinte Holland und nickte dabei. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
    Und wieder lächelte sie ihn an, wusste aber nichts Geistreiches zu erwidern und errötete deshalb. Im Augenblick war ihr nicht danach, sich Captain Holland gegenüber zu erklären. Stattdessen blickte sie forsch nach vorn, damit die beunruhigenden Gedanken nicht wieder Besitz von ihr ergreifen konnten. Die Landschaft bot indes noch weniger Abwechselung. Regen setzte ein, und der dichte Nebel raubte die Aussicht auf die öde Heidelandschaft fast vollständig. Dann hielt der Fahrer an, und gemeinsam mit Holland brachte er das Kutschendeck in die richtige Position. In Lindham hielten sie ein weiteres Mal. Dem Kutscher zufolge waren es noch vier Meilen bis nach White Ladies, aber angesichts des schlechten Wetters bekümmerte ihn der Zustand der Küstenstraße.
    »Sie wissen ja, wie das ist, Sir«, beklagte er sich. »Der sandige Boden hier ist unpassierbar, die Pferde kommen da nicht vorwärts. Und dazu braut sich da oben noch ein schlimmer Sturm zusammen«, fügte er trübselig hinzu.
    »Sieht ganz so aus«, stimmte Holland ihm zu und blickte himmelwärts. »Aber wir machen hier nicht halt. Also, je eher wir weiterkommen, desto besser. Ich werde den Rest des Weges reiten. Dann ist die Karriole bestimmt besser in den Griff zu bekommen.«
    Der Kutscher hatte noch längst nicht alles über die Unwägbarkeiten der Küstenstraße von sich gegeben, aber Hollands Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab weiterzusprechen. Seine Meinung tat er indes kund, indem er mit den Achseln zuckte und launisch mit der Peitsche schnalzte. Während Holland Gurt und Steigbügel justierte, bekamen die Pferde seine Klagen zu hören. »Na, da bist du ja, Ben, alter Kerl. Nun komm schon, Tally. Ich kann nicht den ganzen Tag auf dich warten. Sonst verpassen wir noch das Gewitter. Ihr wisst ja, die Küstenstraße packt das nicht, aber es gibt wohl Leute, die das besser wissen.«
    Demzufolge ging die Reise in gedrückter Stimmung weiter. Der Ärger des Kutschers nahm zu, als der Regen aufhörte und die Landstraße hinter Lindham immer schmaler wurde, ohne dass sich ihr Zustand verschlechterte. Lieber hätte er Wind, Regen oder Morast die Stirn geboten, nur um zu beweisen, dass er im Recht war. Schließlich ging sein Wunsch doch noch in Erfüllung. Die Straße hatte sich derweil gegabelt, und sie fuhren auf dem Weg, der wohl geradewegs nach White Ladies führte. Hinter den Bäumen sah man bereits das Dach eines großen Gebäudes. Dort, wo die Straße nach rechts weiterführte, lag jedoch ein großer umgefallener Baum, der eine Weiterfahrt unmöglich machte. Der Fahrer nickte triumphierend. »Der ist bestimmt beim letzten Sturm umgekippt«, bemerkte er. »Vielleicht hat der Blitz da eingeschlagen.«
    Holland stieg von seinem Pferd und begutachtete die Lage des Baums, während Mary und der Fahrer schnell mit guten Ratschlägen bei der Hand waren. Der Kutscher bestand darauf, sein Fuhrwerk bleibe stecken, sobald sie den Weg verlassen würden, und Mary meinte, sie müssten den restlichen Weg zu Fuß bestreiten können. Schließlich war es doch keine Entfernung mehr. »Gut. Gut«, sagte Holland und blickte beide finster an. »Sie können uns hier absetzen …

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