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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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erbte mein Onkel alles. Mein Vater wollte Advokat werden, aber dann begegnete er meiner Mutter und heiratete sie. Da sie nicht vermögend war, musste er gleich Geld verdienen. Er bat seinen Bruder um Hilfe, aber er versagte sie ihm.« Mary hielt inne. »Deshalb gab mein Vater seinen Beruf auf und arbeitete als Lehrer. Zum Bruder brach er jeglichen Kontakt ab.«
    Holland beugte sich vor und entfachte das Feuer erneut. Danach wandte er sich Mary zu. »Wissen Sie, warum er Ihrem Vater das Geld nicht leihen wollte?«
    Dies musste Mary verneinen. Bei ihr zu Hause war darüber nie gesprochen worden. Nur ihre Mutter hatte ihr einmal hinter vorgehaltener Hand davon erzählt. Mary hatte das Verhalten ihres Onkels verwundert, und da sie ihm nie begegnet war, hatte sie ihm verschiedene unehrenhafte Motive unterstellt: Entweder sah sie ihn als Geizkragen, oder er wollte seinen Bruder schikanieren, indem er seine Macht ausspielte. Ein anderes Mal war er eifersüchtig auf das Glück seines Bruders oder gegen die Verbindung ihrer Eltern. Man konnte Hunderte von Gründen finden, wenn man nur lange genug darüber nachdachte.
    »Jahrelang habe ich ihn abgrundtief verachtet«, gab Mary nun zu. »Und ich stellte mir immer vor, was ich ihm sagen würde, sollte ich ihn jemals zu Gesicht bekommen. Lange Gespräche waren das, und sie endeten immer damit, dass mein Onkel große Schmach und Reue empfand und meinem Vater anbot, als Wiedergutmachung seinen gesamten Besitz mit ihm zu teilen.«
    Sie lächelte reumütig, und Holland lächelte sie ebenfalls an. »Sind Sie deshalb hierhergekommen?«, fragte er dann. »Um ihn zur Rede zu stellen?«
    »Sicherlich auch deshalb, und das lässt mich hartherzig erscheinen.«
    »Schließlich wollten Sie Ihren Vater verteidigen. Da ist doch nichts Schlechtes dabei.«
    »Nein, aber weil ich den eigentlichen Grund für den Disput nicht kannte, hätte ich vollkommen falschliegen können. Leider war der andere Grund noch unehrenhafter. Als ich den Brief meines Onkels erhielt, war ich vor allem erstaunt. Ich musste ihn zweimal lesen, bevor ich verstand, was mein Onkel mir mitteilen wollte, denn ich hatte nie wirklich daran geglaubt, ihn jemals zu treffen, und noch weit weniger, dass er mich ausfindig machen würde. Und dann dachte ich, dies sei die Gelegenheit, um … nun, um von Mrs. Bunbury wegzukommen.« Sie zuckte ein wenig zusammen, als sie diese Worte aussprach.
    »Was war daran denn nicht in Ordnung?«, fragte sie der ganz praktisch veranlagte Holland. »Ein wohlhabender Verwandter bittet Sie, ihn zu besuchen. Nur ein Narr würde dies ablehnen und weiter an dieser verdammten Schule arbeiten. Ihnen gefiel es dort doch nicht, oder?«
    »Nein, aber ich dachte, dass ich vielleicht …«
    »Dass er Sie adoptieren würde oder Ihnen ein Auskommen geben, damit Sie nicht länger an einer Schule würden unterrichten müssen? Warum denn nicht? Es war doch einen Versuch wert, wenngleich Sie wohl nicht in allen Einzelheiten hätten erwähnen dürfen, was aus Ihrem Vater geworden ist. Keine Reden schwingen, meine ich.«
    »Ja, deswegen habe ich ziemliche Schuldgefühle«, gab Mary zu, »ich konnte meinem Onkel doch keine Strafpredigt halten und ihn im nächsten Atemzug um ein Geschenk bitten! Ach, das hört sich alles schrecklich schwach und undiszipliniert an, und das war es wohl auch. Aber es ist wirklich nicht angenehm, sich ständig um Geld sorgen zu müssen und sich zu fragen, was geschehen mag, wenn man alt ist oder seine Anstellung verliert. Und über solche Dinge sorgten wir uns alle an der Schule immer wieder.«
    Holland wollte sie unterbrechen, doch Mary schüttelte den Kopf. »Aber jetzt, wo ich hier sitze, habe ich begonnen, zur Abwechslung einmal über meinen Onkel statt über mich nachzudenken. Der Zwist mit meinem Vater muss auch ihn belastet haben, und am Ende wollte er sich wohl aussöhnen. Deshalb wird er nach mir geschickt haben. Das hat er im Brief angedeutet.«
    Ohne Hollands Entgegnung abzuwarten, kniete sie sich auf den Boden und wühlte in ihrer Reisetasche. Bald darauf fand sie, wonach sie suchte, und hielt ihm einen gefalteten Bogen hin.
    Meine liebe Nichte,
    ich sende Ihnen meine hochachtungsvollen Grüße und hoffe, dass Sie nicht abgeneigt sind, diese von jemandem zu empfangen, der gegenwärtig noch ein Fremder für Sie ist. Betrübt habe ich vom Ableben Ihrer Eltern erfahren und bin voller Hoffnung, dass dies doch noch sein Gutes haben könnte, indem Sie und ich uns besser kennenlernen. Da

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