Miss Mary und das geheime Dokument
es um meine eigene Gesundheit im Moment nicht zum Besten bestellt ist, bin ich nicht in der Lage, zu Ihnen zu kommen. Deshalb wäre ich hocherfreut, wenn Sie mich mit Ihrer Anwesenheit auf meinem Gut beehren würden. Ich hoffe, Sie baldigst zu sehen. Mit den besten Wünschen, verbleibe ich Ihr ergebener Diener und Onkel,
Edward Finch
Hollands Gesichtsausdruck veränderte sich weder bei der Lektüre noch bei der Rückgabe des Briefes, aber er zuckte mit den Achseln und sagte: »Ja, danach sieht es aus«, und beantwortete damit ihren fragenden Blick.
»Und jetzt kann ich mich nicht mehr mit ihm versöhnen.« Sie faltete ihre Hände und fuhr mit leiser Stimme fort: »Vielleicht litt er in seinen letzten Stunden darunter, keine Antwort auf seinen Brief bekommen zu haben, und... sogar heute noch habe ich schlecht von ihm geredet.«
»Geben Sie sich dafür bitte nicht die Schuld«, sagte Holland und zog die Stirn kraus. »Sie wussten doch nichts davon. Es war einfach Pech, mehr nicht.«
Aus dem Kamin kam ein wahrer Funkenregen, und Mary nahm außer Reichweite der glühenden Holzscheite wieder Platz. »Ja, aber … es tut mir leid, und für ihn tut es mir auch leid, egal was in der Vergangenheit auch geschehen sein mag.« Dann verstummte sie wieder, aber kurze Zeit später lächelte sie ein wenig. »Mrs. Bunbury sagt: ›Das beste Heilmittel für Sorgen ist zu arbeiten‹, und das ist wohl ein guter Rat. Lassen Sie mich überlegen … Mein Onkel muss einen Advokaten oder einen Verwalter gehabt haben, und über ihn werden wir erfahren, ob … Ach«, fügte sie noch schnell hinzu, »aber das alles interessiert Sie ja gar nicht. Ich meine damit nur, ich sollte mich Ihnen nicht länger aufdrängen …«
Holland schüttelte den Kopf. »Sie drängen sich nicht auf. Ich werde nicht gehen, bevor Sie nicht versorgt sind, also lassen Sie mich nur Ihre Ideen hören.«
»Das ist schrecklich nett von Ihnen«, entgegnete Mary. »Ich tue das gar nicht gerne, aber wenn Sie mir nur noch eine kleine Weile helfen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Er sah, wie sie abermals errötete, dann schaute er woanders hin. »Das geht in Ordnung«, murmelte er.
Die Konversation wurde nun angenehmer, da sie über die nächsten Schritte sprachen und diskutierten, ob es besser sei, nach Lindham oder nach Woodbridge zurückzukehren oder einen von Mr. Finchs in Frage kommenden Nachbarn ausfindig zu machen. Beide konnten sie sich nicht mehr so genau an den Gasthof in Lindham erinnern, aber dorthin war es näher als nach Woodbridge. Der nächste Nachbar wohnte auch mehrere Meilen entfernt, und Mary wollte nicht Fremde um Gastfreundschaft bitten.
»Wir können auch hierbleiben«, bemerkte Holland.
Daraufhin starrte sie ihn an. »Hierbleiben?«, piepste sie. »Hier übernachten ?«
»Hm«, sagte er und nickte, wobei er ein Lächeln unterdrückte. Also war es doch nicht unmöglich, sie zu überraschen. »Hier ist genügend Platz, und wir bräuchten nicht durch den Regen. Morgen früh können wir dann weitersehen. Das ist die praktischste Lösung.«
»Ja-a«, gab sie zu und versuchte, ihren Unmut zu verbergen. Dachte er allen Ernstes , sie könnte die Nacht mit ihm verbringen - nur sie beide? Er musste doch wissen, dass dies höchst unschicklich war, aber sie wollte ihn nicht brüskieren. So begann sie ihren nächsten Satz, ohne zu wissen, wie er enden würde. »Ich nehme an … Ich meine, wir könnten …«
Sein Lachen ließ sie verstummen. »Nein, nein, ich mache nur Spaß. Selbstverständlich werden wir nicht hier übernachten.«
Daraufhin musste auch Mary lachen und meinte, sie habe gleich gewusst, er würde nur einen Scherz machen. Wollte er noch etwas essen, bevor sie sich auf den Weg machten? Er musste doch sehr hungrig sein, und die Kartoffeln waren derweil sicherlich gebacken.
»Besser, was zu essen, wenn man die Möglichkeit dazu hat«, stimmte er ihr zu, »später brauchen wir vielleicht dringlicher was und stehen dann ohne was da.«
Mary ging zur Küche voraus und zeigte dabei auf verschiedene aus dem Mittelalter stammende Besonderheiten, bis sie bemerkte, dass Friese und gewölbte Decken ihn nicht besonders interessierten. »Und dies hier ist mein Großvater«, sagte sie nun und hielt die Kerze hoch, um am Ende des Flurs ein großflächiges Porträt zu beleuchten. Bei dem flackernden Licht war es schwierig, sein Antlitz genau zu erkennen, obgleich Holland das herausfordernd angehobene Kinn wiedererkannte. Der Maler hatte den
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