Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
Vom Netzwerk:
dachte Mary, während er durch die Türöffnung ins Ungewisse kroch und sie wieder allein war. Witze zu machen war ja gut und schön, aber was geschähe, wenn ihm da drinnen tatsächlich etwas zustieße? Oder wenn die Räuber zurückkämen, jetzt, wo er im Tunnel war, oder wenn er stecken bliebe? Was, wenn es am anderen Ende keine Tür gab?
    Dann hörte sie ein paar heftige, dumpfe Schläge. Was geschah da? Wie lang konnte der Tunnel sein? War er stecken geblieben? Sie hörte ein schabendes Geräusch, und dann spürte sie, dass Holland wieder an ihrer Seite war. »Gibt es noch eine Tür?«, flüsterte sie. »Können wir hinausgelangen?«
    Es gab eine Tür, und sie konnten hinausgelangen. Beklommen hörte sie zu, wie Holland ihr erklärte, was sie tun musste, um in die Freiheit zu kommen, aber sie gab sich zuversichtlich. Dann war er wieder verschwunden. Nach einer kurzen Weile drang seine Stimme, die jetzt merkwürdig dumpf klang, wieder zu ihr. »In Ordnung. Die Artillerie hat eine Bresche geschlagen. Die Infanterie kann jetzt vorrücken.«
    Mary holte tief Luft und schob sich auf dem Rücken vorsichtig durch die Öffnung in einen niedrigen, abfallenden Tunnel. So bewegte sie sich Zoll für Zoll vorwärts und drückte sich dabei mit den Füßen ab, wie Holland es ihr geraten hatte. Die Wände links und rechts konnte sie problemlos berühren. Aber als sie sich ganz im Tunnel befand, war das Gefühl, in der Falle zu sitzen, fast überwältigend. Sie hielt kurz inne, um sich wieder zu fangen, aber das genaue Gegenteil trat ein. Ihr Herz raste wie wild, und sie bekam immer schlechter Luft. Sie konnte fast spüren, wie sich die Wände um sie herum schlossen. Was, wenn einer ihrer Peiniger auf einmal im Keller erschiene, bemerkte, dass sie auf der Flucht waren, und sie zurückzerrte? Beim Gedanken daran zog sie ihre Füße zu heftig an und schlug dabei mit den Knien gegen die Tunneldecke. Der Schock brachte sie wieder zur Vernunft, und sie ermahnte sich, kein Feigling - zumindest nicht so ein lächerlicher Feigling - zu sein.
    »Kommen Sie«, spornte Holland sie an, dessen Stimme jetzt beruhigend nahe klang. »Sie haben es gleich geschafft. Geben Sie mir Ihre Hand.« Mary reichte die Hand hoch und stöhnte zuerst auf, als Holland ihr verletztes Handgelenk fest umfasste, doch als er sie dann das letzte Stück zog, entspannte sie sich. »Gut gemacht, Miss Finch«, fügte er noch hinzu, als er ihr beim Aufstehen half. »Sie sind ein tapferes Mädchen.«
    »Aber nein …« Sie musste schlucken. »Ich habe mich sehr gefürchtet.«
    »Deshalb waren sie ja tapfer, weil sie es trotzdem gemacht haben.«
    »Vielleicht, aber ich habe nur getan, was Sie mir sagten. Sie haben uns hier rausgeholt.«
    Einen Augenblick lang standen sie im Schutz des Hauses. Es war dunkel geworden, und durch die Wolkenlücken drang nur ein schwaches Mondlicht. Für Augen, die sich indes an die tintenschwarze Leere im Keller gewöhnt hatten, war diese Art der Dunkelheit angenehm und wirkte schon fast beruhigend. Mary bemerkte, wie Holland sie anlächelte. Unwillkürlich strich sie mit den Händen ihr Kleid glatt. »Oh«, murmelte sie auf einmal ganz schüchtern, »es ist zu schön, wieder frische Luft zu atmen.«
    »Zu frisch für meinen Geschmack«, entgegnete er, zog seinen Mantel aus und reichte ihn ihr.Während sie sich abmühte, in das schwere, weite Kleidungsstück zu schlüpfen, erklärte er ihr die Lage. Um zum Friedensrichter zu kommen, mussten sie sechs oder sieben Meilen nach Norden reiten. Nach Lindham Hall hingegen, wo eine Lady namens Tipton lebte, ging es in westlicher Richtung. Dorthin war es näher, vermutlich nur ein paar Meilen weit, wenn sie den Weg über Land nähmen.
    Holland meinte, Lindham Hall sei die bessere Wahl, und Mary stimmte ihm zu. Alles hörte sich besser an, als hier in der Nähe ihrer Peiniger zu bleiben. Jeden Augenblick konnte doch einer von ihnen aus dem Haus kommen und …
    »Gut«, sagte Holland und nickte. »Wir schlagen uns durch das Unterholz dort, um den Hof zu vermeiden, und überqueren die Zufahrt im Schutz der Bäume. Vielleicht lauern ein paar Kerle da herum, machen Sie sich darauf gefasst, stehen zu bleiben, wenn ich es sage, und machen Sie so wenig Lärm wie möglich.«
    Sie brachen auf und waren in der Nähe des Hauses besonders achtsam. Mary konnte die vor ihnen liegende Straße sehen, aber kurz bevor sie die relative Sicherheit des Unterholzes hinter sich gelassen hatten, hielt Holland sie zurück.

Weitere Kostenlose Bücher