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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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übernehmen. Daher verfügte sie, bis nach dem Frühstück alle anfallenden Arbeiten in strikter Ruhe zu erledigen. Diese Anweisung führte dazu, dass sich Peggy auf leisen Sohlen Marys Kleid aus deren Kammer holte, um es noch vor dem Morgengrauen mit einem Schwamm zu reinigen und zu bügeln, und es beim Zurückbringen versäumte, die Tür hinter sich wieder ganz zu schließen. Dies wiederum führte geradewegs dazu, dass Mary einige Stunden später mit dem untrüglichen Gefühl erwachte, sie werde beobachtet. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass fünf Hunde unterschiedlicher Größen und Rassen die Tür aufgestoßen hatten und in ihre Kammer eingedrungen waren, die drei kleineren hatten sich zudem auch zu ihr ins - oder besser gesagt - aufs Bett gelegt. Die kleineren Vierbeiner schliefen allesamt - einer schnarchte sogar -, ihre größeren Artgenossen hingegen hatten auf eine ausdrückliche Einladung gewartet oder vielleicht auch darauf, dass man ihnen genügend Platz machte. Deshalb standen sie nun mit treuem Hundeblick vor Mary und wedelten hoffnungsvoll mit dem Schwanz.
    Einen Moment lang sah Mary sie einfach nur staunend an und dachte darüber nach, welch wundersamen Wandlungen Mrs. Bunburys Temperament doch unterworfen war. Nachdem sie in der Vergangenheit immer wieder gegen Hunde als lärmende, schmutzige Kreaturen gewettert hatte und verfügte, ihresgleichen seien niemals auf dem Schulgelände zu dulden, hatte sie sich offenbar doch erweichen lassen und ließ sie mittlerweile zahlreich herein. Als die letzten Reste ihrer Schlaftrunkenheit wichen, sah sich Mary etwas genauer um. Eine bauschige Daunendecke, steife, bestickte Vorhänge an den Fenstern, schwere Möbel, die hier und da mit Marys mageren Habseligkeiten bestückt waren - das war nicht Mrs. Bunburys Schule für junge Damen, sondern Lindham Hall -, und allmählich drangen die Ereignisse des vergangenen Tages und der Nacht wieder in ihr Bewusstsein.
    Sie kleidete sich eilig an und ging, von den Hunden eskortiert, nach unten, die ihren Aufbruch so deuteten, dass sie mit ihnen spielen wollte. Daher waren sie bitter enttäuscht, als sie ihnen den Zutritt zum Speisezimmer verwehrte, und lagen winselnd im Flur, bis Peggy sie davonjagte. Als Mary die Tür hinter sich schloss, sah sie einen ausladenden Eichentisch mit drei Gedecken vor sich, aber nur einen besetzten Platz.
    »Morgen«, grüßte Captain Holland und erhob sich. »Ich hoffe, Sie sind wohlauf.«
    Mary erwiderte mit besorgtem Lächeln: »Guten Morgen. Ich bin zwar wohlauf, aber ich fürchte, ich habe verschlafen. Warten Sie schon lange? Wo ist denn Mrs. Tipton?«
    »Sie war schon in der Kirche, und jetzt macht sie ihren Morgenspaziergang, das heißt, Cuff schiebt sie im Rollstuhl draußen den Weg rauf und runter.«
    »Ach du meine Güte, ich hätte ja auch … Sind Sie denn hingegangen? Zum Gottesdienst, meine ich?«
    »Nein, ich glaube wir waren aufgrund unserer Verpflichtungen beide entschuldigt. Es ist vernünftiger, stattdessen zu frühstücken.« Der Gedanke daran, sich zu einer herzhaften Mahlzeit hinzusetzen, wenn sie es zuvor versäumt hatte, die gebührende Frömmigkeit an den Tag zu legen, ließ Mary zögern. Daher fuhr er fort: »Pollock, die Köchin, ist höchst betrübt, weil sie die ganze Aufregung gestern Abend verpasst hat. Deshalb klappert sie besonders lautstark mit den Töpfen und Pfannen herum, und wenn sie nun auch noch hört, dass Sie ihre Kochkünste verschmähen …« Er schüttelte den Kopf. »Dann wird sie uns vermutlich vergiften, um sich zu rächen. Wie wär’s zumindest mit einem Schluck Tee?«
    Mary musste unwillkürlich lächeln und setzte sich ihm gegenüber. »Also gut - ich meine, ja bitte. Soll ich einschenken?« Sie entfaltete ihre Serviette und betrachtete das Stillleben, das sich ihr darbot: das schneeweiße Tischtuch mit einem Hauch von Spitze, eine Vase mit roten und weißen Lichtnelken, das erlesene Frühstücksservice … Allein Captain Holland passte nicht so recht hierher. Natürlich müssen auch Gentlemen frühstücken, aber diese Mahlzeit hatte etwas so Weibliches an sich, insbesondere in solch einem exquisiten Ambiente, dass sie einfach fehl am Platz wirkten. Wüsste ein Mann die hübschen Messerchen mit Elfenbeingriff zu schätzen, oder die Teller, bemalt mit Szenen von Wassergärten und langbeinigen Vögeln, die sich neben Bogenbrücken ihr Gefieder putzten? Mary hegte starke Zweifel daran, dass die meisten Männer derartigen Dingen überhaupt

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