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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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Beachtung schenkten.
    Als Mary Captain Holland seinen Tee reichte, musste sie wieder insgeheim lächeln. Denn noch weitaus mehr fehl am Platze schien sie selbst hier zu sein: als Gast in Lindham Hall! Das Frühstück hier war mitnichten vergleichbar mit dem, was sie bei Mrs. Bunbury vorgesetzt bekommen hatte. Dort war das Brot häufig hart und der Inhalt der Teekanne ihr höchst suspekt gewesen. Nie zuvor hatte sie so kleine Brötchen mit Marmelade gegessen. Auch Eier und Speck, die Mary auf einem Rechaud auf der Anrichte brutzeln hörte und deren köstlichen Duft sie einsog, hatte es immer nur als besonderen Festschmaus an Weihnachten gegeben. Wie seltsam, dass sie sich nun in einem Haus befand, in dem ein solcher Luxus zum Alltag gehörte. Nachvollziehbar wäre dies alles nur, wenn es sich in einem Märchen ereignete, wo Mühsal und Gefahren durchlebt werden mussten, um am Ende zum Zauberschloss zu gelangen. Und Mrs. Tipton war durchaus seltsam genug, um die Rolle der guten alten Fee übernehmen zu können, aber in ihrem normalen Leben fiel es Mary nicht leicht, dies alles als gegeben hinzunehmen.
    Aber was war ein normales Leben eigentlich? Seit den Begebenheiten des Vortags war ihr das nicht mehr ganz klar. Mary versuchte, Holland mitzuteilen, was sie empfand, war sich indes nicht ganz sicher, ob er selbst nicht auch sein Teil zu ihrer außergewöhnlichen Situation beitrug. Denn wie oft frühstückte sie schon mit einem Captain der Artillerie, mit dem sie zuvor in einem dunklen Keller eingeschlossen gewesen war? »Es ist, als hätte … als hätte ich nach meinem Weggang von Mrs. Bunbury irgendwann auf der Reise mein ganzes bisheriges und reales Leben hinter mir gelassen, und nun kommt mir nichts von meinem alten Leben noch wirklich vor , sondern nur noch das hier.« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Und das, was gestern war.«
    »Hm-m«, meinte Holland. »In einer Schlacht ist das ganz genauso. Manchmal, wenn eine Kampfpause eintritt, denkt man an ganz gewöhnliche Dinge und kann kaum glauben, dass man sie jemals getan hat. Und später ist es dann die Schlacht, die in der Erinnerung verblasst. Besonders die schlimmsten Momente - was ja im Grunde genommen was sehr Gutes ist.« Er zögerte. »Sie sind nicht … Es plagt Sie jetzt doch hoffentlich nicht mehr so sehr? Daran zu denken, was gestern geschehen ist? Ich meine, Sie haben keine Albträume oder dergleichen?«
    Mary schüttelte den Kopf, aber seine Worte gaben ihr zu denken, denn vergangene Nacht hatte sie tatsächlich etwas Beängstigendes gesehen - oder zumindest gedacht, sie hätte von ihrem Fenster aus einen merkwürdigen Schatten bemerkt, der sich durch den Hof bewegte. Im Grunde genommen war das Captain Hollands Schuld; sein unerwarteter Besuch hatte sie so gründlich aufgeweckt, dass sie anschließend nicht mehr hatte einschlafen können. Weder konnte sie sich erklären, warum sie zum Fenster gegangen war, noch konnte sie den Schatten genauer beschreiben, denn er hatte sich in Luft aufgelöst. In einem Augenblick war er aufgetaucht und im nächsten schon wieder … verschwunden. Daher schüttelte sie jetzt mit reinem Gewissen den Kopf. Es war nichts, was man am helllichten Tag einfach so zugab, und schon gar nicht gegenüber jemandem wie Captain Holland, der ihr nie etwas glaubte und denken könnte, sie schenke seiner Beteuerung, alles sei in Ordnung, keinen rechten Glauben. Und natürlich war alles in Ordnung - aber dennoch war es seltsam von ihm zu fragen, ob sie schlimme Träume gehabt habe.
    »Haben Sie irgendetwas Neues über den Friedensrichter gehört?«, erkundigte sie sich und schob damit bewusst unangenehmere Gedanken beiseite.
    »Ja. Cuff hat bei ihm eine Nachricht hinterlassen mit der Bitte, sobald wie möglich hierherzukommen. Und in der Zwischenzeit wird uns der Herr Pastor einen Besuch abstatten. Es sieht also ganz danach aus, als würden wir die Kirche zumindest nicht ganz verpassen.«
     
    Und tatsächlich machte Reverend Hunnable an diesem Nachmittag in Lindham Hall seine Aufwartung. Er war sanftmütig, ernst und von kleiner Statur. Den Widrigkeiten des Lebens vermochte er nur wenig körperliche, seelische oder geistige Stärke entgegenzusetzen. In seinem tiefsten Inneren war er sich dessen wohl auch bewusst; zumindest hatte er zur Genüge erfahren, dass Gespräche mit Mrs.Tipton oder dem verstorbenen Mr. Finch nur selten vollkommen unkompliziert und angenehm verliefen. Mr. Finch hatte die bedauerliche Angewohnheit

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