Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
Vom Netzwerk:
gehabt, ihn stets mit forschendem oder gar abschätzigem Blick zu mustern und ihn spüren zu lassen, dass er ihm nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit zuhörte. Mrs. Tipton war da das genaue Gegenteil. Man wusste immer genau , was sie dachte, allerdings nicht immer, was man auf ihre Ansichten erwidern sollte, auch wenn man sie häufig bereits mehr als einmal vernommen hatte.
    Mr. Hunnable hatte daher seinem Gespräch in Lindham Hall nicht freudig entgegengesehen, und seine Stimmung hob sich auch nicht, als man ihn bat, im ersten Empfangszimmer Platz zu nehmen, denn dieser Raum, den Mrs. Tipton ausschließlich zum Empfang von Besuchern benutzte, war ohne ein wärmendes Kaminfeuer meist recht unbehaglich. An diesem Tag hatte man das Feuer erst vor wenigen Minuten angezündet, und seine bescheidene Größe konnte gegen die alles durchdringende Kälte kaum etwas ausrichten. Mr. Hunnable musste zwar einräumen, dass er seinen Atem noch nicht sehen konnte, aber er war fest davon überzeugt, dass es in Mrs.Tiptons Empfangszimmer kälter war als draußen. Und dann hatten sich auch noch seine Inquisitoren - denn als solche betrachtete er sie - um ihn herum versammelt. Miss Finch konnte er noch nicht recht einschätzen, aber Captain Holland war ein rauer, ungestüm wirkender Mann, vermutlich von hitzigem Temperament, und Mrs. Tipton kannte er natürlich bereits zur Genüge.
    In Mary hatte Mr. Hunnable, obwohl ihm das selbst nicht bewusst war, gewissermaßen eine Verbündete, zumindest was das erste Empfangszimmer anbelangte. Es strahlte weit weniger Behaglichkeit aus als das zweite, denn es mangelte darin an Sesseln, auf denen so manch ein Allerwertester der Familie Tipton bereits einen tiefen Eindruck hinterlassen und sie dadurch bequem gesessen hatte. Daher strahlte der Raum eine Ungemütlichkeit und Kälte aus, die Mary an die Räume bei Mrs. Bunbury erinnerte. Über dem Kamin hing das Porträt eines Gentlemans mit altmodischer Perücke und einer Spitzenkrawatte, der düster durch den Raum zu einer Frau in grauem Seidenkleid blickte, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Ein leichtes Schielen verlieh ihr einen misstrauischen Gesichtsausdruck, so als fragte sie sich, was diese Leute da in ihrem Zimmer zu suchen hatten und ob sie wohl vornehm genug seien, sich darin aufzuhalten.Was Mary selbst anbelangte, hielt sie diesen Zweifel durchaus für angebracht, aber wenn es jemandem nicht gelingen wollte, etwas - nun ja - wohlwollender in die Welt zu blicken, dann sollte er sich ihrer Ansicht nach besser nicht porträtieren lassen.
    Alle saßen schweigend und fröstelnd beisammen und nippten am lauwarmen Tee. Mr. Hunnable verspürte die bedrückende Atmosphäre am stärksten, denn schließlich musste er irgendwann das Wort ergreifen. Mit tiefem Seufzen fragte er sich, ob ihm nicht eine weitere Scheibe Toast diese Bürde erleichtern würde. Aber gut. Am besten begann er mit Miss Finch, die schließlich am dringlichsten seiner Aufmerksamkeit bedurfte. Er erläuterte, wie leid es ihm getan habe, von Mr. Finchs Ableben zu erfahren, obgleich er mit dem Verstorbenen zugegebenermaßen keinen besonders vertrauten Umgang gepflegt hatte. Aber man tue schließlich seine Pflicht … und natürlich sei es nicht angebracht, zu sehr zu trauern, wenn der Tod die Erlösung von schwerem Leiden bedeute. Selbstverständlich sei es das Los der Menschheit, auf Erden zu leiden, doch insbesondere langes Siechtum könne eine schwere Bürde sein. Auch um Mr. Hunnables eigene Gesundheit war es nicht gerade zum Besten bestellt, aber es stand einem nicht gut an zu klagen. Und bot es nicht einen gewissen Trost, sich vor Augen zu halten, dass alle Mühsal in diesem Leben nichts weiter sei als eine Vorbereitung auf die um so viel größeren himmlischen Freuden?
    Sobald er geendet hatte, nickte Mary höflich und bedankte sich für seine mitfühlenden Worte. »Verstehe ich Sie richtig, Sir, dass Sie nicht bei meinem Onkel waren, als er starb?«
    Bedauerlicherweise war Mr. Hunnable nicht zugegen gewesen, sondern hatte die traurige Neuigkeit von Mrs. Collins, der Haushälterin auf White Ladies, vernommen. Damals war er selbst durch eine Erkrankung dazu genötigt gewesen, das Bett zu hüten.
    Mary hätte Mrs. Collins zu gerne aufgesucht, doch Mr. Hunnable entgegnete, eine solche Begegnung ließe sich wohl nicht einrichten. »Eine mürrische Frau, fand ich stets, aber der Tod des armen Mr. Finch hat sie anscheinend doch tief getroffen. Sie verließ diese Gegend

Weitere Kostenlose Bücher