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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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immer unverblümter beim Namen.
    »Dieser Löffel hier …« Mary blickte das Besteckteil stirnrunzelnd an, denn der lange, gebogene Griff sah fast ebenso merkwürdig aus wie seine runde, gelochte Schale.Wozu sollte ein Löffel mit Löchern darin bloß gut sein?
    »Abwarten und …«, murmelte Hicks und führte eine angedeutete Trinkbewegung aus.
    »… Tee trinken«, ergänzte Mary lächelnd. »Bitte notieren Sie ein Paar silberne Teelöffel... oder besser gesagt: ›Teesieblöffel‹, Mr. Hicks.«
    »Sehr wohl, Miss.«
    »Und diese kleine Schaufel …«
    »Der Stilton-Stecher? Da fragt sich gewiss manch einer, wozu in aller Welt der nur gedacht ist. Ja, habe ich notiert, Miss. Ich esse Stilton-Käse für mein Leben gern - nach dem Essen mit ein bisschen Obst -, und ich vermute, Sie bestimmt auch.«
    »Ja-aa, er schmeckt sehr gut. Ein Stilton-Stecher also. Und diese Zangen hier dienen allem Anschein nach einem sehr nützlichen Zweck nach dem Essen.« Sie schwenkte nachdenklich eine davon. »Die sind wohl … als Zigarrenhalter gedacht, damit der Gentleman seine Zigarre bequem ganz aufrauchen kann, ohne sich die Finger zu verbrennen.«
    »Ach so«, meinte Hicks und nickte, wandte aber ein, es gebe hier zwölf von diesen raffinierten Gerätschaften. »Während des Essens könnten sie vielleicht auch noch einem weiteren Zwecke dienen: um damit Spargel oder dergleichen aufzunehmen.«
    »Ja, wirklich eine ausgezeichnete Idee! Ich glaube, bei meinem ersten Dinner in White Ladies werde ich auf alle Fälle Spargel servieren.«
    Mit der Zeit arbeiteten sie sich durch Streuer, Untersetzer, Tabletts, Wasserkrüge, Etageren und Trinkbecher, durch Gläser für Wasser, Bier, Liköre und für Hochprozentiges und durch Porzellanschüsseln sowie Platten jeder nur erdenklichen Form und Größe. Hicks stellte bewundernd fest, dass insbesondere Mr. Finchs Silbersammlung äußerst erlesen war, und Mary begann ernsthaft, ihre erste große Abendgesellschaft zu planen.
    Gleichzeitig gab Hicks auch einiges über sich selbst preis. Ziemlich verlegen gestand er ihr, dass er in seiner Jugend ein Leben geführt hatte, welches sich nur wenig von dem auf White Ladies unterschied. Sein Vater war ein einflussreicher Gentleman gewesen, und Hicks hatte eigentlich ein komfortables, gutes Leben vor sich gehabt. Da seine Herkunft jedoch nicht zu seiner derzeitigen Stellung passte, schilderte er kurz die Gründe für seinen Abstieg. Die Geschichte war nicht spektakulär, da Mary jedoch wenig Erfahrung mit jedwedem unziemlichen, ausschweifenden Lebenswandel besaß, hörte sie aufmerksam zu.
    Im Grunde genommen enthielt Hicks’ Bericht gar nicht viel darüber, denn aus Rücksicht auf seine Zuhörerin machte er nur vage Andeutungen über sein unlauteres Verhalten. Nichtsdestotrotz erfuhr Mary, dass er als Student mit einer wilden, zügellosen Clique junger Burschen verkehrt hatte. Da es ihm an anderweitiger Orientierung fehlte oder er diese ausschlug, verlor er »den moralischen Kompass« und gebärdete sich als äußerst leichtsinnig und selbstsüchtig. Cambridge musste er verlassen und ging nach London, wo er sich seinen Ausschweifungen noch hemmungsloser hingab. Eine Zeit lang verlief sein Leben glücklich, turbulent, aber auch oberflächlich und leer, was er jedoch in jenen Tagen als Glück erachtete. Der Zusammenbruch war jedoch, früher oder später, unausweichlich, und eine betrügerische Geldanlage richtete ihn zugrunde. Er verlor alles und entging dem Schuldturm nur, indem er aus England floh.
    Dann brachen die wirklich schweren Zeiten an, als er krank, ohne Freunde und mittellos sein Dasein fristen musste. Da erst erkannte er, wie fahrlässig er sich selbst zugrunde gerichtet hatte, trug aber zu schwer an seiner Bürde, als dass er etwas anderes tun konnte, als seinen Absturz zu bedauern. Es war Mr. Déprez, der ihm eine Chance gewährte, oder vielmehr seine zweite Chance, indem er ihn aus der Gosse zog und ihm eine Arbeit auf seiner Plantage gab. Aus unerfindlichen Gründen vertraute ihm Mr. D., und Hicks beschloss, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Allmählich kam er wieder auf die Beine und konnte sich sogar auf bescheidene Weise nützlich machen. Und nun war er hier, nicht ganz als das, was sich sein Vater vor langer Zeit einmal für ihn erhofft hatte, aber zumindest hatte er sein Bestes gegeben.
    Während sie Hicks’ Bericht lauschte, empfand Mary ganz Unterschiedliches: Mitleid für den jungen Mann, der durch schlechte Gesellschaft

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