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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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und seine eigene Schwäche vom rechten Weg abgekommen war, tiefes Mitgefühl für die Eltern, die bitterlich enttäuscht gewesen sein mussten, und Bewunderung für den Mann, der die Mühen auf sich genommen hatte, einem anderen aus der Not zu helfen.Wie edel von Mr. Déprez, dass er an Hicks geglaubt hatte, als ihn die meisten Menschen seinem Schicksal überließen! War das nicht ein weiterer Beweis dafür, was möglich war, wenn man das Richtige tat und edelmütig handelte? Er hatte das Leben eines anderen gerettet.
    Manche dieser Gefühle spiegelten sich auf Marys Gesicht wieder, und Hicks bat sie eindringlich, nichts von alledem Mr. D. gegenüber verlauten zu lassen. Er erachtete dies als etwas sehr Persönliches und wollte seinen Wohltäter nicht in Verlegenheit bringen.
    »O nein, dessen können Sie gewiss sein«, versicherte ihm Mary und ergriff seine knorrige Hand.
    Am frühen Nachmittag war die Inventur des ganzen Tischgeschirrs samt allem Zubehör schließlich beendet, und man teilte ihnen jeweils andere Aufgaben zu: Hicks in der Vorratskammer, Mary in der Bibliothek. Mr. Todd erklärte, die meisten Bücher seien von ihrem vorherigen Besitzer katalogisiert worden, aber es herrschte Unklarheit darüber, ob die Liste vollständig war. Einer der Kanzleihelfer wollte das überprüfen, denn man musste auf eine Leiter steigen, um an die oberen Regale heranzukommen. Diese Aufgabe konnte man wohl kaum einer jungen Dame zumuten. Und dann war da ja auch noch Mr. Finchs Schreibtisch, der unter Büchern, Papieren und Schachteln mit Korrespondenz förmlich ächzte. Ob Miss Finch wohl so freundlich wäre, diese durchzusehen?
    Die Bibliothek. Mary durchlief ein leichter Schauder bei der Vorstellung, in diesen Raum zurückzukehren, aber der hell erleuchtete Korridor wirkte beruhigend. In der Bibliothek überprüfte bereits ein Angestellter einen abgegriffenen Katalog, und vom Fenster aus sah sie Mr. Mycroft draußen auf dem Rasen seine Anweisungen erteilen. Alles wirkte friedlich und verlief in wohlgeordneten Bahnen; es erschien ihr höchst unwahrscheinlich, dass etwas Gefährliches passieren könnte.
    Die Stumpfsinnigkeit ihrer Aufgabe bot Mary einen weiteren Halt. Ihr Onkel hatte offensichtlich eine große Anzahl Briefe zu recht belanglosen Vorgängen aufbewahrt: eine Seite aus einer Korrespondenz mit Mycroft über erkrankte Bäume, umfassende Ausführungen zu zwei leichten Vogelflinten, die bei Mr. Nock in der Ludgate Street 10 in London erworben werden sollten, Quittungen für ein Dutzend Herrenhemden und ein halbes Dutzend schlichter Batisttaschentücher. Nachdem sie die kleinste Schublade durchforstet hatte, warf sie einen kurzen Blick in die anderen. Ausnahmslos waren sie vollgestopft mit den papierenen Überbleibseln alltäglicher Erledigungen; sie würde die Schreibtischplatte abräumen und Platz schaffen müssen, um alles genauer in Augenschein nehmen zu können.
    Von der anderen Seite des Raums vernahm Adams, Mr. Todds Gehilfe, plötzlich ein unterdrücktes scharfes Aufseufzen. Er stand auf halber Höhe der Leiter und blickte über die Schulter zu ihr hinüber. »Alles in Ordnung, Miss Finch?«, wollte er wissen.
    »Ja, ja«, versicherte sie ihm. »Ich … ich habe mir nur an einem Stück Papier in den Finger geschnitten.«
    »Oh, das ist Pech«, erwiderte Adams. »Solche Wunden sind ein Elend. Ich hab mich auch mal so geschnitten, und das Blut tropfte auf eine Ausfertigung mit Rechtsbelehrungen. Mr. Todd war gar nicht begeistert.«
    »Wie bitte? Oh, ja … Ich meine, welch ein Pech. Aber das hier ist nicht so schlimm. Es blutet noch nicht einmal.« Sie plauderte mit fröhlicher Stimme und hielt sogar die Hand in die Höhe, um ihre Worte zu unterstreichen.
    Er gab ein dezentes, zustimmendes Grunzen von sich und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Augenblicklich änderte sich Marys Miene, und sie blickte überrascht und verwirrt auf vier Bögen Papier. Sie hatte sie auf dem Schreibtisch ihres Onkels entdeckt, als sie einen Stapel Bücher beiseiteschob; die Papiere hatten daruntergelegen. Auf jedem stand eine Reihung von Buchstaben in einer scheinbar zufälligen Aufeinanderfolge. Der erste Bogen umfasste ein halbes Dutzend Zeilen, die anderen waren beinahe vollgeschrieben. Es war … Es sah aus wie eine verschlüsselte Nachricht.
    Sie setzte sich in ihrem Stuhl zurück und nahm die merkwürdige Buchstabenfolge genauer unter die Lupe. Warum sollte ihr Onkel verschlüsselte Texte geschrieben und sie unter einem Buch

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