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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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stichhaltigeren, und zuletzt beendete er den Disput mit einem Lächeln, das sich als das stärkste Argument von allen erwies. Irgendwie erschien es ihr unmöglich, ihm etwas abzuschlagen. »Also gut«, stimmte sie zu, »wenn Sie meinen, Ihr Geschäftsfreund hat nichts dagegen. Vielen Dank.«
    »Nein, es wird ihm eine Freude sein, dessen bin ich mir gewiss. Sein Name ist Hicks. Ich glaube, er ist Ihnen bei seiner Ankunft in Lindham schon einmal begegnet. Auf dem Friedhof - er erkundigte sich nach dem Weg nach Woolthorpe Manor.«
    »Ach, ja.« Mary runzelte leicht die Stirn. »Ich dachte …«
    »Dass er wohl ein reichlich merkwürdiger Vogel ist? Diesen Eindruck erweckt er oft bei Leuten, die ihn nicht kennen, aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Er hat ein paar … schwere Nackenschläge einstecken müssen, er ist jedoch durch und durch vertrauenswürdig und verfügt über sehr viel Erfahrung.«
    Etwas in Déprez’ Tonfall, während er diese letzten Worte sprach, ließ sie aufhorchen. Versuchte er ihr etwas durch die Blume zu sagen? Sie blickte zu ihm auf, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, und sie wusste nicht mehr, was er dachte. »Finden Sie es … falsch von mir, nach White Ladies zu fahren?«
    »O nein, nicht falsch, aber …«
    »Aber es schadet nichts, vorsichtig zu sein.«
    »Genau«, erwiderte Déprez und nickte. »Warum lächeln Sie?«
    »Genau dieselben Worte hat auch Captain Holland immer gebraucht, wenn irgendetwas sein Misstrauen erregte.«
    »Wirklich? Nun ja, es ist eine sehr kluge Devise.«
     
    Als Mary am nächsten Morgen in White Ladies ankam, fand sie das Haus vollkommen verwandelt vor. Jemand hatte die Abdecktücher von den Möbeln genommen und die Teppiche ausgerollt. In den wichtigsten Räumen brannte zudem ein Kaminfeuer. Auch die Anwesenheit von mehreren fleißigen, freundlichen Kanzleigehilfen und Arbeitern trug zu dieser veränderten Atmosphäre bei. Mary ging durchs Haus und stand öfter im Weg, wenn sie staunend das jetzige White Ladies mit dem verglich, das sie bei ihrer ersten Ankunft hier vorgefunden hatte. Das Haus machte noch immer keinen bewohnten Eindruck, vielmehr schien es, als sei es soeben aus einem tiefen Schlaf erweckt und in Ordnung gebracht worden. Jetzt, wo man die Lampen angezündet und die Möbel wieder an die richtige Stelle gerückt hatte, spürte Mary förmlich die Anwesenheit ihres Onkels. Ob ihm diese Fremden in seinem Haus mit ihren Listen und Notizbüchern wohl sehr missfallen hätten? Es musste ein schweres Los für ihn gewesen sein, die ganzen Jahre hier allein zu leben. Nicht zum ersten Mal dachte Mary mit Bedauern darüber nach, dass sie es nicht geschafft hast, ihm diese Bürde zu erleichtern und der Grabesstille im Haus ein Ende zu bereiten.
    Beim Umhergehen traf sie auf Hicks, Mr. Déprez’ Geschäftspartner. Anfänglich verhielt sich Mary ihm gegenüber ziemlich reserviert. Sie fand sein Verhalten seltsam; einmal benahm er sich grob und fast ungehobelt, ein andermal überraschend weltläufig, und beides schien seinem natürlichen Wesen zu entsprechen. Gewiss war er ganz anders als Mycroft, Mr. Finchs schweigsamer Verwalter, der alles über Forst- und Weidewirtschaft zu wissen schien, das Register der Pachteinnahmen jedoch besser aus dem Gedächtnis hersagen konnte, als es abzulesen. Natürlich war eine Zuckerrohrplantage auf St. Lucia etwas ganz anderes als ein Landgut in Suffolk; warum also sollten nicht auch ihre Verwalter unterschiedlich sein? Aber Hicks klang noch nicht einmal wie ein Bewohner der Westindischen Inseln - oder zumindest nicht so wie Mr. Déprez, jedenfalls nicht immer, korrigierte sich Mary insgeheim.
    Bei der Bestandsaufnahme des gesamten Tischgeschirrs von White Ladies wurden sie einander jedoch vertrauter. Mr. Todd schickte sie in den Anrichteraum, um Hicks dort unter Marys Anweisung eine Liste von Porzellan, Besteck und Gläsern erstellen zu lassen.Wie sich herausstellte, übertrafen seine Kenntnisse auf diesem Gebiet die ihren bei Weitem. Als sie erst einmal die Auflistung der alltäglicheren Utensilien abgeschlossen hatten, sah sich Mary nämlich außerstande, manche Gegenstände zu identifizieren. Bald merkte sie jedoch, dass Hicks nicht nur wusste, wie alles hieß, sondern sich zudem auch große Mühe gab, sie nicht bloßzustellen. Mit der Zeit entstand daraus eine Art Spiel, bei dem nur Andeutungen und Rätsel ausgetauscht wurden. Und während der eine die Dinge eher verschleierte, nannte der andere sie

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