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Miss Seeton riskiert alles

Miss Seeton riskiert alles

Titel: Miss Seeton riskiert alles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heron Carvic
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gefragt, ob sie dem Gottesdienst beiwohnen wolle und gegebenenfalls lieber zu Fuß ginge oder führe. Sie erinnerte sich an die viktorianische Tradition, nach der sonntags der Wagen nur von den Alten und Kranken benutzt wird, und entschied sich daher zu laufen. Ihr fiel auch ein, daß der Tradition zufolge der Spaziergang zur Kirche die richtige geistige Verfassung für den Gottesdienst hervorruft, während die Rückkehr den Appetit für das Mittagessen fördert. Die Umstände waren indessen für beide Theorien nicht günstig. Auf dem Weg zum Dorf wurde Derricks Abwesenheit nicht erwähnt, der Besuch der Polizei ignoriert, und abgesehen von Miss Seetons Bemerkungen über den Zauber der Landschaft und Lady Kenhardings meist unvollendeten Kommentaren wurde wenig gesprochen.
    Die Nachricht von der Vorfahrt des Polizeiwagens vor der Abbey hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Man hatte beobachtet, daß Derrick im Wagen saß, als er wieder abfuhr. Der Ankunft der Familie in der Kirche begegnete man daher entweder mit beleidigender Neugier oder übertriebener Diskretion. Die brennende Frage war: Hatte man Derrick festgenommen, oder würde er nach Hause zurückkehren? In dieser Situation hätte wahrscheinlich jeder Text, den der Vikar für seine Predigt wählte, so ausgelegt werden können, daß er der Gelegenheit angemessen war. Aber seine Wahl aus dem Buch Hiob: »Er wird nicht mehr in dieses Haus zurückkehren, noch wird sein Ort ihn je wieder kennen« war besonders unglücklich. In der Kirche begann man zu flüstern. Die Aufmerksamkeit der ganzen Gemeinde konzentrierte sich auf den Kirchenstuhl der Kenhardings.
    Der Kirchenstuhl der Familie unter dem Chor stand im rechten Winkel zum Hauptschiff und besaß einen eigenen Eingang. Durch diesen Eingang führte der Lord seine Gruppe sofort hinaus, als der Gottesdienst vorüber war. Er schritt schnell voran, entschlossen, nicht ein zweites Mal Spießruten laufen zu müssen unter den Augen der Gemeinde, die nach Neuigkeiten aus der Abbey gierte. Was er sich über die nächtlichen Vorfälle zusammengereimt hatte, das Vorgehen der Polizei am Morgen und nun die Erkenntnis, daß man allgemein um seine häuslichen Verhältnisse wußte, ließen ihn die Zähne zusammenbeißen. Er beschloß, zu handeln.
    Sie legten den Rückweg fast schweigend zurück. Deirdre schien in ihren eigenen, angenehmen Gefilden zu schweben. Miss Seeton fiel kein passender Gesprächsstoff ein. Sie hatte das Gefühl, daß die Familie glücklicher ohne eine Fremde in ihrer Mitte gewesen wäre. Sie litt auch unter einem gewissen Schuldgefühl und vermutete, daß ihre Anwesenheit im Hause die Dinge in mancher Hinsicht verschlimmert hätte. Nur Lady Kenharding machte den Versuch zu einer Unterhaltung.
    »Mark, nimmst du vielleicht an…?« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft stehen.
    Ihr Mann schien ihr nicht genau zugehört zu haben, aber nach ein oder zwei Minuten sah er sie liebevoll an und sagte: »Ja, Penny, ich vermute es.«
    Für den Gast war dieser bruchstückhafte Dialog ein Beweis, daß der Altersunterschied kein Hindernis bildete für gegenseitiges Verstehen und daß hier auch die Erklärung war für Lady Kenhardings flüchtige, unbestimmte Sprechweise. Sie war an eine verwandte Seele gewöhnt, die mit der ihrigen in Einklang stand; sie mußte selten viele Worte machen, um ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen.
    Deirdre, die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit Miss Seeton suchte, machte bei ihrer Rückkehr den Vorschlag, ihrem Gast den Landsitz zu zeigen. Ihr Vater wehrte ab.
    »Als Herr des Hauses beanspruche ich das Vorrecht, Miss Seeton unsere unvergleichliche Sammlung von Unkraut und Ruinen zu zeigen.« Seine Tochter protestierte, wurde jedoch zurückgewiesen. »Du kannst deiner Mutter helfen.«
    »Wobei?«
    »Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls kannst du immer Helene helfen, das Ei zu kochen, oder was immer wir zum Mittagessen bekommen.«
    Als Lord Kenharding und Miss Seeton außer Hörweite waren, sagte er: »Wie ich erfuhr, haben Sie nicht gut geschlafen.«
    Oh! Diese Bemerkung stellte einen vor ein Problem! Zugeben, daß man in einem fremden Haus schlecht geschlafen hatte, war gleichbedeutend mit einer Kritik an den Vorkehrungen, die man zum Wohlbefinden des Gastes getroffen hatte. Wenn man jedoch sagen würde, man hätte gut geschlafen, so würde dies eine Unwahrheit sein – obwohl es vollkommen richtig war hinsichtlich der Stunden, die Gelegenheit zum Schlafen geboten

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