Miss Seeton riskiert alles
haben. Lord Kenhardirig zerstreute ihre Zweifel.
»Einer meiner Vorfahren war so vernünftig, in den Niederlanden Geld zu heiraten. Es wurde 1436 in Brügge im Haus der Braut gemalt.« Das erklärte, wie der Name Derrick in die Familie gekommen war.
Miss Seeton sah mit großen Augen durch die Galerie. Aber das mußte – das hier mußte ein Vermögen wert sein. »Alles unveräußerlicher Familienbesitz«, erklärte er, »genau wie das Haus und das Land.« Er zuckte die Achseln. »Es wäre möglich, ihn aufzulösen, aber wenn man einmal anfängt zu verkaufen, dann geht es schnell dahin, und was hat man dafür vorzuweisen? Man hat immer das Gefühl, daß die nächste Generation vielleicht schlechter gestellt sein könnte als man selbst. Kommen Sie weiter.« Er schob sie an einem Gemälde und zwei Zeichnungen von Holbein vorüber. »Ich habe Sie nicht hierher gebracht, damit Sie sich an dem Anblick der Bilder weiden – das können Sie nach Herzenslust zu jeder anderen Zeit tun. Hier.« Er blieb vor einer Miniatur stehen. Miss Seeton prüfte sie. Dann ging ihr ein Licht auf: Dies war der junge Mann, den sie beim Frühstück gesehen hatte, im Maskenkostüm: Derrick. »Wegen Verrat 1684 im Tower enthauptet«, sagte Lord Kenharding und schrittweiter. Widerstrebend folgte ihm Miss Seeton.
Unwillkürlich zögerte sie vor – ja, es war unverkennbar – einem Rubens. Daneben hing ein riesiges Gemälde, das den Rubens kleiner erscheinen ließ, ihn aber nicht in den Schatten stellte. Es war von van Dyck. Von dem Porträt in Lebensgröße lächelte ihr Deirdres Gesicht zu, eingerahmt von Ringellocken. Sie trug ein tiefangesetztes, mit Spitzen eingefaßtes Mieder und schien, nach dem Schwung des Kleides zu schließen, nur einen Augenblick innezuhalten, ehe sie aus dem Rahmen stieg. Miss Seeton eilte weiter, um Lord Kenharding einzuholen, der vor einem anderen großen Bild stand: ein junger Mann von Gainsborough. Es war, wie sie geahnt hatte, wieder Derrick. Derrick mit gepuderter Perücke, Spitzenkrause und Kniehosen. Er hatte sich graziös und mit scheinbarer Lässigkeit gegen eine Steinsäule gelehnt, die – man sollte es nicht glauben – mitten zwischen den Wurzeln eines großen Baumes stand, dessen Zweige und Blätter – und das war typisch – nicht die Kühnheit besaßen, einen Schatten auf das Gesicht des jungen Mannes zu werfen.
»In Tyburn 1782 wegen Mordes gehängt.« Lord Kenharding schritt weiter bis zum Ende der Galerie. Miss Seeton schenkte der übrigen Pracht keine Beachtung und ging sogar so weit, den Zauber eines Reynolds, die Miniatur eines Cosway und – nein, nein, sie konnte nicht hinsehen, aber ja, sie war praktisch sicher – einen Kopf von Rodin zu ignorieren.
Dann stand sie wieder vor Derricks eher hübschem als schönem Gesicht. Die Unschuld der zu weit auseinanderstehenden Augen widersprach der Verschlagenheit des Ausdrucks; der schmollende, sinnliche Mund; die schwachen Kinnbacken. Bestimmt ein Sargent? Und da war etwas in der Art, wie die hagere Gestalt sich zurückwandte, die sie erinnerte an – natürlich, an das Graham-Robertson-Porträt! Obwohl dies hier späteren Datums war. Merkwürdig, daß die einzigen Porträtisten von Bedeutung beide Amerikaner waren – Whistler und Sargent –, während England noch in der Sentimentalität eines Watt, Burne-Jones und Rossetti schwelgte. Obwohl man zugeben mußte, daß Sargent zwar in Italien geboren wurde, aber immer ein Gast im Lande… Ihre Träumereien wurden durch Lord Kenharding unterbrochen.
»Mit Rücksicht auf seinen jüngeren Bruder, meinen Vater, lautete das Telegramm des Kriegsministeriums: >Bedauern, Ihnen mitzuteilen, daß Captain Lord Kenharding am zwanzigsten September an der Somme gefallen ist.< Er wurde von seinen eigenen Leuten bei dem Versuch, zum Feind zu desertieren, in den Rücken geschossen.« Er drehte sich um und schaute sie an. »Beantwortet dies Ihre Frage, die Sie im Garten stellten? Ob junge Leute durch Erfahrungen klüger und stärker werden?«
7
So viele junge Zuschauer! Miss Seeton war überrascht. Sie hatte erwartet, daß hauptsächlich Menschen mittleren Alters oder alte Leute zu Rennen gehen würden; aber hier schien der Anteil der Jugend gleich groß, wenn nicht größer zu sein. Sie fragte sich verwundert, woher sie die Zeit dazu nahmen. Es herrschte ein geschäftiges Treiben und eine heitere Stimmung – ganz anders als die Feierlichkeit, die kultivierte Langeweile des Kasinos. Der Himmel war bewölkt,
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