Miss Seeton riskiert alles
Banner zu beeindrucken. Er konnte nicht ernsthaft gewollt haben, daß sie damit setzte. Sie kannte keine Buchmacher. Angenommen jedoch, es war ihm ernst gewesen? Es wäre unangenehm, wenn das Tier gewinnen würde. Jedenfalls: wie machte man so was eigentlich? Die Menschenmenge war größer geworden, sie wurde hin und her gestoßen. Man sprach über Pferde. Sie sah niemanden, den sie kannte. Was sollte sie tun? Ihr fiel eine mögliche Lösung ein. Es wäre schließlich nicht wirklich unehrlich, und Tom – seit Samstag nacht fiel es ihr leichter, ihn in Gedanken Tom zu nennen – brauchte es nie zu erfahren. Fünfundzwanzig Pfund waren natürlich eine lächerlich hohe Summe. Aber wenn sie an die Summe dachte, die die Versicherungsgesellschaft ihr für die Wiedererlangung jener Gemälde in der Schweiz absolut hatte auszahlen wollen – wirklich ganz zu Unrecht –, dann konnte sie es sich schließlich leisten. Das würde die Sache sehr vereinfachen. Sie würde also setzen, und wenn das Pferd gewann, war alles in Ordnung. Wenn es verlor, würde sie behaupten, nichts unternommen zu haben, und das wäre auch in Ordnung. Aber wie .? Sie musterte den Mann an ihrer Seite. Sie fand, daß dieser Kerl mit der karierten Mütze und in seinem schmutzigen Regenmantel nicht gerade jemand war, dem sie gern Geld anvertraut hätte. Aber man mußte ihm gerecht werden und zugeben, daß er sehr sachverständig wirkte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Miss Seeton.
Der Mann beachtete sie nicht. Zu sehr beschäftigt mit seinem eigenen Problem, bemerkte er noch nicht einmal, daß man ihn ansprach. Er zog vorsichtig die rechte Hand aus der Tasche seines Regenmantels und ließ sie über die Barriere hängen, wobei zwischen seinem zweiten und dritten Finger ein Stück des Laufes einer Pfeilschleuder sichtbar wurde. Genauer gesagt handelte es sich um eine Art mechanisches Blasrohr, ausgelöst von einem Drücker, der eine starke Feder freigab. Die Idee stammte von einem Erfinder, der im Sold des Syndikats stand. Wenn der Daumen auf dem Abzug lag, war die Waffe schußbereit. Es war leicht, bis zu einer Entfernung von etwa zwei Metern einigermaßen genau zu treffen. Die Munition bestand aus einem Nadelgeschoß in einer Ampulle, die beim Abdrücken zerschlagen wurde. Zwei bestochene Wissenschaftler hatten mehr als ein Jahr lang gearbeitet, um „diese Patrone zu schaffen. Als Grundlage für ihre Experimente hatten sie Narkoseinjektionen für Vieh genommen und Beruhigungsspritzen für wilde Tiere, die die New Yorker Polizei bei einem Versuch benutzt hatte, der streunenden Hunde von Brooklyn Herr zu werden. Die beiden Chemiker lösten das Problem schließlich dadurch, daß sie ein Opiumderivat zu einem Splitter mit einer nadelscharfen Spitze »einfroren«. Auf Grund seiner schmerzstillenden Eigenschaften wirkte es wie der Biß einer Stechfliege. Der Splitter verdunstete schnell an der Luft, so daß – abgesehen von einem Nadelstich im Bein oder im Hinterteil des Tieres – nichts zu sehen war. Auch die Folge der Lokalbetäubung würde man schwerlich entdecken. Das Pferd könnte zunächst leicht erregt sein, aber nicht mehr, als es viele Rennpferde normalerweise sind, wenn sie an den Start gehen. Zehn Minuten nach der »Injektion« würde in den getroffenen Muskeln eine leichte Lähmung einsetzen, die nur wenige Sekunden dauerte. Sie könnte auf einen Beinwechsel oder eine Unebenheit der Rennbahn zurückgeführt werden. Diese wenigen, äußerst wichtigen Sekunden konnten bewirken, daß das Pferd das Rennen verlor. Das Syndikat hatte schon seit einiger Zeit hohe Gewinne auf das in diese wissenschaftliche Forschung investierte Geld eingestrichen.
Der Lautsprecher verkündete: »Jockeis, bitte aufsitzen.« Miss Seeton sah, wie ihr auserwählter Reiter in seiner kirschroten und gelben Bluse und mit silberner Schärpe von einem Mann aufs Pferd gehoben wurde. Die Eigentümer und Trainer hatten aufgehört, miteinander zu reden, alle Anweisungen waren erteilt worden. Der Favorit Fancy’s Folly mit Jockei wurde, ehe er den Sattelplatz verließ, herumgeführt.
Jetzt war der Augenblick da. Das schäbige Individuum straffte sich schußbereit. Er hob die Hand, und als Fancy’s Folly sich näherte, richtete er seine Pfeilschleuder auf das Hinterteil des jungen Hengstes. Sein Daumen spannte sich über den Drücker und…
Miss Seeton klopfte ihm auf die Schulter. Bei der allzu vertrauten Berührung ließ der Mann seine Hand sofort sinken. Er war bereit, dreist zu
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